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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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fragte Miro.
    »Ganz bestimmt.«
    »Warum war da in dem Zimmer ein Skelett?«
    »Das war ein Schädel. Aus Plastik. Er gehört Onkel Markus.«
    »Warum durfte ich den nicht anfassen?«
    Jenni seufzte.
    »Weil wir hier nur zu Besuch sind.«
    »Er hat mich gebissen.«
    »Wer?«, fragte Jenni. Ein absurdes Bild schoss ihr durch den Kopf. Ihr Blickfeld vibrierte.
    »Niemand. Der Schädel. Obwohl er unten gar keine Zähne hat.«
    Jenni spürte erleichtert, dass sie wieder Luft bekam.
    »Ein Plastikschädel beißt nicht«, sagte sie und strich Miro über die Wange. »Gehen wir essen, ja?«
    »Ich mag nicht«, murrte Miro. Er blickte zur Decke auf und stieß einen frustrierten Klagelaut aus.
    Erst jetzt sah Jenni den roten Kratzer direkt neben seinem linken Ohr. Er war blass und wahrscheinlich nur bei dieser Beleuchtung und aus diesem Winkel sichtbar. Aaron oder Lisa? Jenni wurde von hilfloser Wut gepackt, die sie drängte, etwas zu tun, dem Schuldigen zu zeigen, was er einem kleinen unschuldigen Kind angetan hatte.
    Aber es blieb die Frage: Aaron oder Lisa? Oder hatte der Junge sich selbst gekratzt? Womöglich stammte der Kratzer gar von ihr? Manchmal musste sie Miro fester anpacken als beabsichtigt.
    Eine endlose Kette von Fragen, endlos wie die Wellen in dem bis an den Horizont reichenden Meer, das sie umgab und gefangen hielt.Jenni hatte vorgehabt, Ina ihre Hilfe anzubieten, aber als sie nach unten kam, war bereits fertig gedeckt. Lisa und Markus saßen am Tisch und fixierten beide wie auf Verabredung den aus der Teekanne aufsteigenden Dampf. Markus’ Mund zermahlte das Essen in gleichförmiger, regelmäßiger Bewegung, die bei Jenni die Vorstellung weckte, in seinem Innern laufe ein Motor, der ihn essen, schlafen und die Augen bewegen ließ. Es war eine seltsam beruhigende Vorstellung. Dass Markus zur Maschine geworden war.
    »Setz dich«, sagte Ina und stellte ein Holztablett auf den Tisch.
    Jenni half Miro auf den Stuhl und warf einen Blick zur Treppe. Aaron ließ sich nicht blicken. Erst beim Hinsetzen merkte Jenni, dass sie den Platz gewählt hatte, der am weitesten von Lisa entfernt war. Die Stühle zwischen ihnen und die polierte Tischplatte schienen zu wachsen, der Abstand war lächerlich groß.
    »Wie geht es dir, Lisa?«, fragte Jenni. Sie war stolz auf die Festigkeit ihrer Stimme.
    Lisa, die gerade die Teetasse an den Mund führte, erstarrte. Sie blinzelte sich den Dampf aus den Augen.
    »Blendend«, antwortete sie und trank von dem Tee, der heiß zu sein schien.
    »Schön zu hören«, sagte Jenni und fragte Miro, was er auf sein Brötchen wolle.
    Ina setzte sich neben Markus. Er hatte einen Fleck am Kinn. Jenni versuchte, nicht darauf zu achten, doch ihr Blick kehrte immer wieder zu dem Fleck zurück. Sie hätte Ina gern gebeten, ihn abzuwischen.
    Der Wind war stärker geworden.
    »Aaron hat offenbar keinen Hunger«, sagte Lisa.
    Sie stellte die Teetasse ab, faltete die Hände und blicktenach draußen. Die Geste wirkte plötzlich so vertraut, dass Jenni unfähig war, zu antworten oder darüber nachzudenken, was sich hinter den Worten verbarg. Sie erinnerte sich an Lisas aneinandergepresste Hände, an die zuckenden Finger, an ihr Profil vor dem Fenster. Lisa war zu Besuch gekommen, auch damals war Spätsommer gewesen, vielleicht schon Herbst. Jennis Mutter hatte Kaffee gekocht und sich Lisas Geplauder über ein Segelboot angehört, das Aaron kaufen wollte.
    Auch Jenni und Ina hatten zugehört, ein Glas Saft in der Hand, und gefragt, ob man mit so einem Boot die ganze Welt umsegeln könne. Lisa hatte versichert, das sei möglich und sie würden die Reise gemeinsam unternehmen, beide Familien. Das habe Aaron ausdrücklich gesagt. Später hatten Jenni, Ina und Markus sich fremde Städte ausgemalt, Stürme, einsame Inseln, Affen, die in den Bäumen schaukelten, und bunte Vögel. Doch das Segelboot war irgendwann in der Brandung anderer Pläne untergegangen. Es war ab und zu wieder aufgetaucht, aber schließlich war nicht einmal mehr die Mastspitze zu sehen gewesen, da wichtigere Dinge den Traum zunichtegemacht hatten.
    Hätte Lisa sich damals am Küchentisch vorstellen können, welchen Lauf die Dinge nehmen würden? Hatte dieser Moment bereits den Samen dessen enthalten, was das scheinbar grenzenlose Licht und den unendlichen Frieden jenes Sommers zerstören würde? Lisa hatte zum Fenster hinausgeschaut, hatte die Hecken betrachtet, die Jennis und Inas Mutter gestutzt hatte, und die Blumenbeete und das Spiel des

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