Schatteninsel
Traurigkeit. Andererseits hoffte sie, der Junge würde so alt werden, dass er das Herannahen des Todes begrüßen würde. Sie hoffte, dass er eines Tages ohne sie zurechtkam.
»Aha«, sagte Miro. Sein Interesse an den Steinhaufen schien erschöpft zu sein. Den Blick auf die Schuhspitzen geheftet, ging er ans Ufer. Jenni bat ihn, vorsichtig zu sein, folgte ihm zwischen zwei Steinhaufen hindurch, berührte den einen im Vorbeigehen, spürte dann Felsen unter den Füßen. Sie schaute aufs Meer und atmete die kühle Luft ein. Hier, wo man den Wind riechen konnte, sah die Umgebung nicht mehr so trostlos aus. Das Licht spielte auf den Wellen und die Seeschwalben schwebten über dem Meer, stießen immer wieder blitzschnell ins Wasser. Jenni drehte sich um und betrachtete die Steinhaufen.
Tatsächlich, was mochten sie sein? Mit der Seefahrt konnten sie nichts zu tun haben, dafür waren sie zu weit vom Ufer entfernt. Kümmerliche Bodenvegetation und loses Geröll umgab sie. Jenni zählte die Haufen. Es waren neun. Sie bildeten einen ungleichmäßigen Bogen, dessen rechtes Ende fast an den Wald reichte.
Da bemerkte Jenni ein Gebäude am Waldrand.
»Schau mal«, sagte sie. »Was ist denn das?«
Miro hatte sich hingehockt und untersuchte eine Felsspalte. Er blickte über die Schulter in die Richtung, in die Jenni zeigte.
»Irgendein Haus«, sagte er träge, genau in dem Ton, den Jenni anschlug, wenn ihr die Fragen des Jungen zu viel wurden.
Jenni betrachtete das kapellenähnliche Gebäude am Waldrand, rechts neben dem letzten Steinhaufen. Die naturbelassenen Bretter waren morschgrau. In der Mitte des Satteldachs ragte ein kleiner Turm auf. Das Gebäude musste alt sein, es war gewissermaßen mit seiner Umgebung verschmolzen. Dennoch wunderte sich Jenni, dass sie es nicht sofort entdeckt hatte. Es kam ihr vor, als ob das Bauwerk sie und Miro aus seinen dunklen Bogenfenstern beobachtete.
»Das ist sicher irgendeine Kapelle«, sagte sie.
Miro schien sie nicht zu hören. Er stocherte mit dem Finger in der Felsspalte. Jenni beschloss, sich das Gebäude näher anzusehen. Sie wollte gerade den ersten Schritt machen, als Miro fragte:
»Wer ist das?«
Jenni sah sich um. Jemand ging am Ufer entlang. Zuerst glaubte sie, es sei ein Mann. Die Gestalt trug einen einfachen Mantel aus grünem Wachstuch, den Kopf bedeckteeine Kapuze. Die übergroßen Gummistiefel reichten bis zu den Knien. Doch der Stimme nach war es eine Frau. Jenni hatte das Wort nicht verstanden, vermutete aber, dass es sich um einen Gruß handelte.
»Hallo«, rief sie zurück und winkte.
Die Frau kam näher und lächelte Miro freundlich an. Unter der Kapuze schauten aschgraue Haare hervor. Das gebräunte Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht.
»Was ist das?«, fragte Jenni und deutete auf das Gebäude am Waldrand.
Die Frau blieb stehen und sah sich um.
»Bönegraven «, sagte sie.
Es war schwer zu sagen, ob in dem Wort Stolz mitschwang oder lediglich Verwunderung über Jennis Unwissenheit.
» Graven ? Ein Grab? Von wem?«
»Bönegraven« , wiederholte die Frau. Sie faltete die Hände und schaute nach oben. »Böne.«
»Aha«, sagte Jenni, obwohl sie nichts verstand.
Die Frau winkte ab und schüttelte den Kopf.
»Ein Mensch geht dahin«, sagte sie in stockendem Finnisch und zeigte auf das Gebäude.
Jenni nickte.
»Dann ist der Mensch so lange dort, bis er ganz … fertig ist. Verstehst du?«
Jenni setzte eine bedauernde Miene auf und schüttelte den Kopf.
»Alleine so lange bis … bara Gud är där .«
»Allein mit Gott.«
»Just så ensam med Gud . «
»Aha«, sagte Jenni und beschloss, auf weitere Fragen zu verzichten.
»Wie heißt er?«, fragte die Frau.
Jenni war verwirrt, bis ihr aufging, dass die Frau Miro meinte. Der Junge hatte sich ein Stück von ihnen entfernt. Er scheute vor der Unbekannten zurück, die eine fremde Sprache sprach.
»Miro«, antwortete Jenni.
Die Frau wiederholte den Namen und legte die Hand vor den Mund. Jenni verstand die Geste nicht. Bedeutete Miro auf Schwedisch irgendetwas Anstößiges? Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Die Frau zuckte nicht mit der Wimper, und es war Jenni, die schließlich den Blick abwandte.
Miro stocherte mit einem Stock in der Erde neben einem der Steinhaufen. Die Frau sah ihm eine Weile zu und ging dann zu ihm. Jenni folgte ihr langsam.
»Was tust du?«, fragte die Fremde so laut, dass Miro erschrak.
»Ich grabe«, murmelte er.
»Warum gräbst du?«
Anfangs hatte es den
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