Schatteninsel
Anschein, als würde Miro nicht antworten. Doch dann sagte er: »Hier ist so …«
Er schien nach dem richtigen Wort zu suchen.
»… gute Erde.«
Die Frau stand gebückt neben Miro. Sie erstarrte, schwankte, fing sich dann mit einem raschen Schritt zur Seite.
»Es ist sehr gute Erde«, sagte sie und hob etwas auf.
»He, verdammt, nicht klauen!«, protestierte Miro und versuchte den Stein an sich zu nehmen, doch es war zu spät. Die Frau murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang, und ging weg.
»Du sollst nicht fluchen«, mahnte Jenni leise.
»Aber schau doch mal!«, rief Miro und sah Jenni bestürzt an.
Die Frau umrundete den nächsten Haufen, den Stein in der Hand.
»Vielleicht hättest du den nicht nehmen dürfen«, meinte Jenni unsicher.
»Warum denn nicht?«
Die Frau ging zum nächsten Steinhaufen und schien dort eine passende Lücke zu finden. Oder vielleicht hatte jeder einzelne Stein seinen genau festgelegten Platz. Die Insel und ihre kleinsten Einzelheiten waren für diese Leute das ganze Universum. Sie sahen ihre Umgebung mit anderen Augen als Fremde.
»Lassen wir sie in Ruhe«, sagte Jenni.
Sie sah, dass die Frau sich umdrehte, lächelte und ihnen zuwinkte. Offenbar sollte das ein Abschiedsgruß sein, denn nun entfernte sich die Fremde. Jenni hätte sie gern um Entschuldigung gebeten, wollte ihr aber nicht nachrufen.
»Gehen wir«, sagte sie zu Miro. »Damit dir nicht kalt wird.«
»Furchtbarer Gestank«, murmelte Miro.
»Was?«
»Die Frau hat aus dem Mund gestunken, ganz furchtbar.«
Jenni lachte auf, fasste Miro unter den Achseln und stellte ihn auf die Füße. Auf dem Rückweg lauschte sie den Wellen und betrachtete Miro, der vor ihr herlief. Die Baumstämme filterten das Sonnenlicht, Miros grüne Jacke schimmerte gewissermaßen, einmal heller, dann wieder dunkel beschattet. Seine flinken Schritte waren so leicht, fast lautlos, dass man beinahe hätte glauben können, derJunge fliege dahin. Zum ersten Mal seit Markus’ Einladung fühlte Jenni sich plötzlich leicht, losgelöst von allem, von Aaron, Markus, Lisa, von der Last, die sie seit Jahren trug. Es war wohl Glück. Ein grundloses, unverdientes Glück.
N achts kam der Apotheker zu Jakob, hielt ihm eine Flasche an den Mund, deren Hals so schmal war, dass die Flüssigkeit nur tropfenweise herauskam. Sie schmeckte zugleich süß und bitter. Jakob trank, hätte gern mehr getrunken, doch der Apotheker nahm es mit der Dosierung sehr genau.
»Du hältst mich am Leben wie ein Schlachttier«, sagte Jakob. »Glaubst du wirklich, ich könnte dir von Nutzen sein?«
Der Apotheker erwiderte:
»Warum würde ich sonst diese guten Männer sterben lassen und Euch am Leben erhalten?«
»Die guten Männer?« Jakob lachte auf. »Gestatte mir, dir zu prophezeien, was diese guten Männer tun werden. Bevor der erste Schneeregen herniederfällt, begehen sie die Sünde der Sodomie. Dann schlagen sie ihre Zähne in Menschenfleisch. Die erste Sünde rechtfertigen sie mit den Worten, das sei das Gesetz des Meeres. Die zweite begründen sie mit dem Gesetz der Not. All das tun sie, bevor der erste Regentropfen zu Eis erstarrt. Ohne Gott ist der Mensch der Narr seiner Triebe.«
Der Apotheker glaubte ihm nicht. Er zog sich zum Schlafen zurück, in der festen Überzeugung, inmitten braver Männer zu liegen.Doch schon am dritten Tag nach dieser Unterredung vernahm der Apotheker, als er im Wald hockend sein Geschäft verrichtete, eine seltsame, kindlich hohe Stimme. Nachdem er fertig war, ging er dem Geräusch nach und sah zwei Männer in der Gewalt widernatürlicher Wollust. Der eine lag rücklings auf einem flachen Felsen, die Beine angewinkelt wie ein Huhn am Bratspieß, und stieß mit grauenvoll weiblicher Stimme obszöne Worte aus. Der andere pumpte, Schaum im Mundwinkel und röchelnd wie ein Bär.
Der Apotheker zog sich zurück, bevor die beiden Sünder seiner ansichtig wurden. Über den unnatürlichen Akt, dessen Zeuge er geworden war, sprach er mit keinem. Schon gar nicht mit Jakob Mört, dessen Schadenfreude ihm um nichts wünschenswerter war als der Hungertod.
Doch in der nächsten Nacht, als der Apotheker zu Mört schlich, um ihm von der Arznei zu geben, bedankte sich dieser mit schriller Stimme, wie er sie im Wald gehört hatte. Dazu schnitt er eine Grimasse wie ein Dämon, in dessen einzigem Auge glühende Kohle steckte.
»Ihr seid nicht unschuldig«, sagte der Apotheker dicht am Ohr des Mannes. Er verspürte den Drang, es abzubeißen
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