Schatteninsel
Kind legen zu können. Selbst schlafen zu wollen, damit man die Kraft hatte, sich zu sorgen.
»Möchtest du, dass wir das Licht anmachen?«, fragte sie.
»Kein Licht«, murmelte Aaron hinter ihr.
»Nicht nötig«, antwortete Miro resigniert.
»Wovor hast du denn Angst?«, fragte Jenni. »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Lisa war nur auf mich wütend, und inzwischen hat sie sich bestimmt wieder beruhigt.«
Miro wälzte sich unruhig hin und her. Es war schon so dunkel, dass Jenni nicht sehen konnte, ob er ihr den Rücken oder das Gesicht zuwandte.
»Vor der hab ich keine Angst.«
Jenni stand auf und ging zu Miros Bett. Der Fußboden war kalt.
»Wovor denn dann?«
»Da-a-ass i-ich ertri-inke«, sagte Miro gedehnt.
Jenni zog ihm die Decke bis zu den Schultern hoch und dachte an den abschüssigen Felsen und an das Meer, an sein kaltes, gleichgültiges Wogen. In seinen Tiefen starben Fische und verrotteten, wurden zu einem feinen Schleier, den die Wellen bewegten und der zerfiel, wenn man ihn berührte, der sich in Nebel verwandelte und schließlich im Meer aufging.
»Im Bett ertrinkt man nicht, Dummerchen.«
»Ich meine nicht so wie im Schwimmbad.«
»Wie denn?«
Miro schwieg eine Weile, dann fing er an, in sein Kissen zu brabbeln und sich auf den Kopf zu schlagen.
»Na, na«, sagte Jenni und drückte Miros Hände auf die Matratze. »Jetzt wird geschlafen.«
Sie tastete im Dunkeln nach Miros Wange, bis ihre Finger die glatte Haut fanden. Miro blieb still liegen und flüsterte:
»Ich hab Angst, dass ich ertrinke und es ist ganz dunkel und dann hör ich nur mein eigenes Gebrabbel und du bist nicht da und kannst nicht sagen, dass ich still sein soll.«
Jenni zwang sich zu einem leisen Lachen, obwohl ihrnicht zum Lachen war. Sie hörte Schritte auf dem Flur und überlegte, ob sie von Lisa stammten. Warum sollte Lisa hier oben ins Bad gehen?, dachte sie, war aber zu erschöpft, um sich weiter darum zu kümmern.
»Hör mal, ich bin immer bei dir und sage, jetzt ist Schluss mit dem Gebrabbel.«
»Versprochen?«
»Versprochen. Jetzt mach die Augen zu und schlaf schön.«
»Gute Nacht«, sagte Miro.
»Gute Nacht«, antwortete Jenni und ging zurück in ihr Bett. Der Schlaf überrollte sie unaufhaltsam und schwer wie eine Welle, obwohl sie wach bleiben wollte, bis Miro eingeschlafen war.
Aarons Atemzüge waren gleichmäßig und beruhigend. Jenni hasste sie, doch sie zogen sie mit sich in eine barmherzige Bewusstlosigkeit. Miros Stimme und die Erinnerung an die Schritte auf dem Flur ertranken in der Dunkelheit.
In der Nacht schrak Jenni auf. Es dauerte lange, bis sie wusste, wo sie war. Miros Atmen war ganz nah, ein beruhigendes Geräusch.
Jenni drehte sich auf den Rücken und sah an die Decke.
Etwas hatte sich verändert. Das Zimmer war nicht mehr so dunkel wie in dem Moment, als sie eingeschlafen war. Sie wäre gern in den Schlaf zurückgeglitten, doch es gelang ihr nicht. Ihre Augen öffneten sich wie von selbst, musterten die Decke und die Wände.
Wenn man lange genug hinschaute, sah man einen schwachen rötlichen Schimmer, der verschwand und dann wieder auftauchte. Es muss eine Halluzination sein, dachteJenni, schob aber dennoch die Bettdecke beiseite und setzte sich langsam auf. Sie betrachtete das Fenster. Ein rötlicher Widerschein zuckte über die Scheibe und verschwand. Jenni saß im Bett und wartete, bis sie ihn wieder sah, dann stand sie auf und ging ans Fenster.
Der Himmel war dunkel und sternlos. Nur ein trüber Mond beleuchtete die Wolkendecke, die einer erstarrten Lawine glich. Durch das Fenster, das Kühle ausstrahlte, war das Meer zu hören. Ein ruhiges wogendes Rauschen, das Miros Atemzüge begleitete.
Weit weg brannte etwas. Vielleicht tobte irgendwo ein Feuer oder man hatte einen gewaltigen Scheiterhaufen angezündet. Der rote Schimmer erstreckte sich über eine weite Fläche, er wogte und bewegte sich unruhig hin und her. Er musste von einer großen beweglichen Lichtquelle ausgehen.
Es war jedoch nichts dergleichen zu sehen. Der Wald und die Ufer waren dunkel. Ihre Formen waren nur dann zu erkennen, wenn der im Wasser schimmernde rote Schein auf sie fiel. Es war also doch kein Feuer. Im Meer leuchtete etwas.
Jenni beugte sich näher ans Fenster, bis ihre Nase das kalte Glas berührte.
Tatsächlich. Das Meer glühte. Jenni versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, ihn in ihrem müden Kopf zu verarbeiten. Dann sah sie noch etwas anderes. Eine Bewegung, Gestalten am Ufer.
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