Schatteninsel
Lichts auf den Blättern. Nun sah sie nichts als Felsen, Himmel und ineinander verschlungene Wellen. Glatten Fels, der zum Ufer abfiel, als schmölze er zu grauem kaltem Wasser.
»Vati will nicht mit euch zusammen sein.«
Jenni schrak auf, als sie Miros Stimme hörte, und versuchte sich zu erinnern, worauf sich seine Worte bezogen. Einen erschreckenden, merkwürdigen Moment lang war sie überrascht, dass sie ein Kind hatte, dass dieser unruhige Junge ihr Sohn war.
»Hat der Vater des Jungen das gesagt?«, fragte Lisa, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.
Des Jungen.
»Ja«, antwortete Miro trotzig.
»Vater, na ja …«, murmelte Lisa.
Jenni begriff, dass sie handeln musste. Miro und diese Frau redeten an ihr vorbei.
»Aaron kommt bestimmt gleich«, sagte sie und berührte Miro an der Schulter. »Vati kommt bestimmt.«
Der Junge wich ihr aus, nahm den Käse von seinem Brötchen und riss ihn in mundgerechte Stücke.
»Wohl kaum«, antwortete Lisa. »Ich kenne ihn doch. Besser als du.«
Jenni schloss sekundenlang die Augen und betete inbrünstig, dass Aaron käme.
»Lisa …«, sagte Ina. »Lass es gut sein.«
»Lass es gut sein?«, schnaubte Lisa. Sie sah zu Markus hinüber, der sich ein Brötchen in den Mund stopfte und unermüdlich kaute, den Blick in die Ferne gerichtet. »Wenn Markus wieder gesund ist, dann lasse ich es gut sein. Es geht mir nicht um euch, auch nicht um mich, sondern um Markus.«
»Dein Sohn wird nicht mehr gesund.«
Ina sah aus, als hätte es sie eine unmenschliche Anstrengung gekostet, diese Worte auszusprechen. Sie sah Lisa ruhig an, doch ihre Hände zitterten.
»Im Gegenteil«, fuhr sie fort. »Sein Zustand verschlechtert sich rapide. Die Ärzte geben ihm höchstens noch einige Monate, und das weißt du genau, Lisa. Markus’ Welt verschwindet, Stück für Stück. Das sollten wir akzeptieren. Und dementsprechend miteinander umgehen.«
Lisa richtete den Blick auf Jenni, so hatte es zumindest den Anschein. Doch bald wurde Jenni klar, dass Lisa es nur nicht ertrug, ihren Sohn anzusehen, nicht einmal aus den Augenwinkeln.
Jenni triumphierte innerlich, als sie erkannte, dass dieses Gespräch vor ihrer Ankunft nie geführt worden war. Dass sie es gewissermaßen ausgelöst hatte.
»Wenn Markus noch versteht, was wir reden, gefällt es ihm sicher nicht, dass die Menschen, die er liebt, sich an die Gurgel gehen«, sagte Ina noch.
Die Welt verschwindet, dachte Jenni. Ein beneidenswerter Zustand.
Das Geschirr klirrte, als Lisa aufstand und eine trotzige Entschuldigung murmelte.
»Wohin geht sie?«, wisperte Miro furchtsam, eingeschüchtert durch die Erkenntnis, dass es um ernste Dinge ging.
»Iss nur«, antwortete Jenni.
Ina tupfte sich mit ihrer waldgrünen Serviette die Augen ab, entfernte dann den Fleck an Markus’ Kinn. Jenni war ihr dankbar dafür. Auch sie betrachtete Markus und überlegte, was hinter diesen Augen vor sich ging. Um seinen Mund spielte ein kleines Lächeln, doch das hatte sicher nichts zu bedeuten. Plötzlich hob sich Markus’ Hand vom Tisch. Sie streckte sich vorsichtig nach Lisas leerem Stuhl aus, zog sich dann wieder zurück.
Jenni öffnete den Mund, um etwas Tröstliches zu sagen,zu Ina oder Markus, oder zu beiden. Da schlug ihr von hinten etwas auf den Kopf, so heftig, dass ihr die Haare über die Augen fielen. Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, und die Zähne drückten sich schmerzhaft in die Zunge.
»Verdammte Hure«, fauchte Lisa unmittelbar an ihrem Ohr.
Ein Messer fiel vom Tisch, als Jenni instinktiv die Arme um Miro legte.
»Ich hab mir vom Leben nichts anderes gewünscht als Mann und Kind, kein Geld, kein Boot, keine Anbetung, rein gar nichts.«
Jenni blickte stur geradeaus und drückte Miros Kopf an die Brust. Sie sah Ina, die aufstand und sich näherte, nur wie einen Schatten im Nebel.
»Und du verdammte kinderfratzige Hure nimmst mir beide weg.«
Du warst es, du hast Miro geschlagen, du hast geschlagen –
Jenni formte die Worte mit den Lippen, doch sie blieben unhörbar. Sie hätte sie Lisa ins Gesicht schreien wollen, war aber nicht einmal fähig, den Kopf zu drehen.
Du bist die Böse, du bist die, die schlägt –
»Du hast mir beide weggenommen!«
Du hast das Kind gebissen, du bist ein Monster und keine Mutter –
»Suchst du eine Vaterfigur in ihm oder was? Ich kann dir sagen, dass er nicht zum Vater – «
Inas Stimme schnitt Lisa das Wort ab. Es war eine ruhige, aber entschlossene Stimme, die Stimme der Vernunft.
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