Schatteninsel
Jenni spürte Miros warmen Atem. Dieses Kind hatte sie geboren und an ihrer Brust genährt, es war das Allerwichtigste, nicht diese tollwütige Frau und ihre Verbitterung.Jenni würde auf ihrem Platz sitzen bleiben und ihr Kind schützen, bis die Attacke vorbei war.
»Bist du jetzt zufrieden?«, fragte Ina in Jennis Rücken. Jenni wusste nicht, wem die Frage galt, ihr oder Lisa. Wütende Schritte pochten über das Parkett und entfernten sich. Ina bückte sich und hob etwas auf, wahrscheinlich das Messer.
»Esst ruhig weiter«, sagte sie. »Lisa ist weg, sie wird sich bald wieder beruhigen.«
Inas Hand fuhr über Miros Kopf. Eigentlich streifte sie ihn nur mit den Fingerspitzen, denn Jenni zog das Kind aus ihrer Reichweite. Sie betrachtete das Besteck auf dem Tisch und stellte sich vor, wie es von selbst auffliegen und versuchen würde, Miro zu verletzen, und es wäre ihre Pflicht, ihn zu schützen.
»Es ist vorbei«, beteuerte Ina. Sie kehrte an ihren Platz zurück und flüsterte Markus etwas zu. Aus den Augenwinkeln sah Jenni, dass er immer noch reglos wie ein steinernes Denkmal am Tischende saß.
»Alles in Ordnung«, sagte Jenni zu Miro und merkte, dass sie ihre Stimme zurückgewonnen hatte. »Wenn du keinen Hunger mehr hast, gehen wir nach oben.«
Sie spürte Miros Nicken.
»Besten Dank«, wandte sie sich an Ina und half Miro vom Stuhl. »Das war wirklich ein zivilisiertes Zusammensein.«
Ina versuchte etwas zu erwidern, aber Jenni und Miro waren bereits auf der ersten Treppenstufe. Da ertönte hinter ihnen ein einziges Wort.
»Jenni.«
Jenni blieb stehen und sah sich um. Markus’ Position hatte sich nicht verändert, sein Gesicht war so ausdruckslos wie zuvor. Aber die Stimme war unverkennbar.
»Du bist gekommen.«
Jenni spürte ein leichtes Schwindelgefühl. In ihren Ohren klang ein schwaches Zischen. Wie von einem Schweißbrenner irgendwo weit weg, vielleicht im Keller.
Rate mal, was er gesagt hat .
Sie sah den blendenden Lichtstrahl und die Schutzmaske, obwohl natürlich kein Schweißer da war. Erinnerungen erwachten, bildeten wütende Fasern, brachten vergessene Gerüche mit sich, Geräusche.
Ina saß starr am Tisch, als fürchtete sie, Markus würde bei der kleinsten Bewegung wieder in seiner eigenen Welt verschwinden.
Jenni wartete eine Weile, dann wandte sie sich ab und ging mit Miro nach oben.
»Das klang ganz nach der alten Lisa«, sagte Aaron, als sie ins Gästezimmer kamen.
Er lag voll bekleidet auf dem Bett und starrte an die Decke. Offenbar hatte er jedes Wort gehört und sich dennoch nicht bequemt, nach unten zu kommen.
Jenni gab ihm keine Antwort. Aaron hatte sie und Miro nicht beschützt, niemand beschützte sie.
Sie zog Miro aus und half ihm in den Schlafanzug. Dann versuchte sie vergeblich, Miros Bett neben ihres zu schieben. Aaron wollte sie nicht um Hilfe bitten. Sie nahm zwei von Miros Gute-Nacht-Büchern aus dem Koffer und las ihm beide vor, auf dem harten Fußboden sitzend, in der Hoffnung, die vertrauten Worte und Gestalten würden Miro davon überzeugen, dass immer noch alles gut war. Dass seine Mutter sich nie in ein rasendes Weib verwandeln würde, das schlug und schrie.
»Jenni«, sagte Aaron nach einer Weile.
Jenni las weiter.
»Lass uns wegfahren.«
Die Geschichte ging weiter, der traurige Drache trug den kleinen Jungen auf seinem Rücken zur Burg des purpurnen Zauberers.
»Markus hat uns gesehen. Lisa hat die Gelegenheit bekommen, ihren Mistkübel auszukippen. Was tun wir hier noch? Dieses Projekt ist abgeschlossen.«
Auf dem Bild näherte sich der Drache der hoch oben auf einem Felsen errichteten Burg. Jenni warf einen Blick darauf und las weiter.
»Fahren wir nach Hause.«
Jenni ließ die Buchstaben der Geschichte ihre Lippen bewegen, obwohl sie gern geantwortet hätte, ja, wir fahren zurück. Aber Aaron war ein Verräter. Aaron hatte nicht begriffen, dass Jenni nicht ohne Miro zu haben war, das hatte er nie verstanden. Aaron schämte sich für den Jungen. Ein misslungenes Projekt. Also sollte er leiden.
Aaron seufzte, stand auf und begann sich auszuziehen.
»Mutti«, kam Miros Stimme aus der Dunkelheit, als Jenni die Gute-Nacht-Geschichte zu Ende gelesen und das Licht gelöscht hatte. »Ich hab Angst.«
Jenni drehte sich zu ihm um. Miro lag wie ein schwarzes Bündel in seinem viel zu großen Bett. Jenni wusste, dass sie sich nicht zu ihm legen durfte, denn dann würde er noch unruhiger. Es war ein quälendes Gefühl, sich nicht neben sein eigenes
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