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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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dem Mund eines Betrunkenen bei irgendeiner blöden Betriebsfeier. Eine dieser banalen Floskeln, die man sich vorbetete, wenn die Schlinge der eigenen Entscheidungen einen würgte. Wenn man bei jedem Atemzug das Gefühl hatte, dass etwas fehlte und nicht mehr viel Zeit blieb.
    »Also, dann mal los«, sagte sie zu Miro und nahm ihn an der Hand. Sie dachte an die Stimme am Handy und daran, dass sie für immer verschwunden war.
    Miro wehrte sich.
    »Schau dir die Fische an.«
    »Wir schauen uns jetzt nichts an«, erwiderte Jenni. Sie dachte an die Stimme und ihr endgültiges Verschwinden. Wie ein Tod. »Wir gehen jetzt.«
    »Sieh doch mal!«
    Jenni zog an Miros Arm und blickte dabei versehentlich auf die Stelle, auf die er zeigte.
    Der Felsen fiel ins Meer ab, in seichtes Gewässer. Unter den langsam wogenden Wellen waren schwarzgraue reglose Gestalten zu sehen. Zuerst glaubte Jenni, es seien nur wenige. Dann blickte sie weiter über das Wasser. Die schwarzen Silhouetten der Fische zeichneten sich überall ab, bis zu der Stelle, wo die Lichtspiegelung und die Trübheit des Wassers die Sicht verwehrten.
    Der Anblick war unwirklich. Der Schwarm bewegte sich nicht mit der Brandung. Er bildete eine Art Pfeil, dessen Spitze nahezu ans Ufer reichte und genau auf Miros linke Schuhspitze zeigte, die nur zehn Zentimeter vom Wasser entfernt war.
    Jenni zog Miro zurück.
    »Warum bewegen die sich nicht?«, fragte Miro und machte einen langen Hals, um die Fische besser zu sehen.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Jenni besorgt. »Vielleicht schlafen sie.«
    Es sah aus, als ob die Fische auf der Seite lagen und aus einem Auge nach oben starrten, vielleicht an den Himmel. Vielleicht auf sie. Jenni blinzelte, doch das Licht, das sich in den Wellen spiegelte, verzerrte das Blickfeld. Tote Fische können nicht so unbeweglich im Wasser liegen, dachte Jenni. Sie müssten träge mit den Wellen schaukeln, auf die Uferfelsen geschwemmt werden wie Schilf.
    Aus einer plötzlichen Eingebung heraus hob sie einen kleinen Stein auf und warf ihn ins Wasser. Miro zuckte zusammen, blieb aber stehen.
    Die Fische rührten sich nicht.
    »Die schlafen wirklich fest«, sagte Miro leise, fast flüsternd. »Bestimmt träumen sie gerade.«
    Wieder warf das Wasser einen Lichtstrahl auf Jennis Gesicht, und einen kurzen Moment lang sah sie nichts anderes als kleine Fischaugen, die unter dem Wasser leuchteten. Ein Augenmeer. Sie blinzelte, damit die Vision verschwand.
    »Komm«, sagte sie und zog Miro an sich. »Gehen wir.«
    Den Rest der Strecke legten sie in einiger Entfernung vom Ufer zurück.
    »Schlafen Fische mit offenen Augen?«, fragte Miro.
    »Ja. Vorsicht, da liegt ein Stein.«
    »Haben die uns gesehen, obwohl sie schliefen?«
    »Nein«, meinte Jenni.
    »Wie sehen wir eigentlich aus, von unter Wasser?«
    »Ich weiß nicht. Pass auf, dass du nicht stolperst.«
    »Du ziehst so fest«, murmelte Miro und sprang über Wurzeln und Steine.
    Jenni entschuldigte sich und hob den Jungen hoch. Sietrug ihn, bis ihre Schultern vor Erschöpfung zitterten. Auf dem letzten Stück gingen sie wieder beide. Miro wollte sogar vorangehen. Er trabte vor sich hin und stolperte, bis er das Haus entdeckte und wieder munter wurde.
    »Mutti, wir sind da!«
    Jenni lehnte sich an einen Baum und lächelte. Die Angst war irgendwo im Bauch gefroren, und erst jetzt, als Miro auf das Geborgenheit ausstrahlende Haus zulief, begann sie zu schmelzen.
    Am liebsten wäre Jenni dort geblieben. Sie wollte den Baum, dessen Namen sie nicht kannte, an ihrer Handfläche spüren. Miro und die Zeit und die Welt ihrem Lauf überlassen. Es würde lange dauern, bevor irgendjemand merkte, dass sie nicht da war. Jenni würde es nicht übelnehmen. Sie würde verständnisvoll sein und die Augen schließen und an die gesichtslose Stimme denken. An den Mann, für den sie plötzlich alles hätte hingeben können. Das war nicht absurd. So war das Leben.

J akob lag auf dem Rücken in seinem Grab und wartete. Die Ränder der Grube umrahmten ein viereckiges Stück Himmel. Schwarze Sturmwolken zogen darüber hin, hellere graue Wolken folgten.
    Jakob hatte nicht erwartet, dass Hunger so unermesslich, so wütend sein konnte. In seinem Heimatdorf hatte er selbst in schlechten Jahren immer noch so viel Getreide gehabt, dass es ihm nie eingefallen wäre, Erde oder Steine zu lutschen.
    Doch nun kratzte er an der Grubenwand, drückte Erde, Wurzeln und Steine an den Gaumen, deren modriger Geschmack Spuren von Würmern und

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