Schatteninsel
Tag. Wenn die Sonne unterging, wurde es rasch dunkel. Andererseits konnten sie nicht weit vom Haus weg sein. Wenn sie nur wüsste, welche Richtung sie einschlagen mussten, wären sie in einer halben Stunde am Ziel. Oder wer weiß. Vielleicht waren sie die ganze Zeit in die falsche Richtung gegangen.
»Mir ist kalt«, klagte Miro.
Jenni bückte sich und wärmte ihn. Sie spürte sein Zittern durch die Kleider hindurch.
»Keine Angst«, sagte sie. »Mutti telefoniert um Hilfe.«
Sie richtete sich auf und blickte unschlüssig auf das Handy, wusste nicht, wen sie anrufen sollte. Ohne weiter nachzudenken, wählte sie die Notrufnummer, löschte sie aber sofort. In einer solchen Situation konnte man wohl nicht die Notrufzentrale anrufen. Die war vollauf beschäftigt mit echten Katastrophen, mit Vergiftungen, Verbrennungen, abgetrennten Gliedmaßen.
»Telefonierst du nun oder nicht?«, fragte Miro. Auf seinem Gesicht lag Besorgnis, vielleicht sogar Angst.
Jenni sah ihm eine Weile in die Augen.
»Ja, ich telefoniere«, sagte sie dann und wählte erneut den Notruf. Schließlich riefen dort auch alle möglichen Junkies an, wenn ihre Freunde ins selbstverschuldete Koma fielen.
Es tutete fünfmal, bevor sich jemand meldete.
»Ich weiß nicht, ob es sich wirklich um einen Notfall handelt«, begann Jenni. »Aber ich glaube, dass ich mich mit meinem Kind verirrt habe. Es kommt mir wirklich blöd vor, deshalb anzurufen.«
»Das ist ganz und gar nicht blöd«, sagte die freundliche Stimme eines jüngeren Mannes. »Was ist denn passiert?«
Jenni erklärte es. Sie war erleichtert, mit einem Erwachsenen sprechen zu können, auch wenn sie sich wie eine komplette Idiotin vorkam. Anrufer wie sie waren bestimmt Dauerthema in den Kaffeepausen des Notrufpersonals. Dumme, verantwortungslose Städter, die zu Wanderungen durch den Wald oder in die Schären aufbrachen, ohne die geringste Ahnung, worauf sie achten mussten. Und ihre Kinder nahmen sie auch noch mit.
»Zuallererst sollten Sie nachschauen, ob irgendwo das Meer zu sehen ist.«
Jenni blickte in alle Richtungen.
»Nein.«
»Aha. Ist es zu hören? Nehmen Sie mal das Handy vom Ohr und horchen Sie.«
Jenni folgte dem Rat. Zuerst klang das Rauschen nur wie ein einziges gleichmäßiges Geräusch. Dann unterschied sie verschiedene Nuancen, unterschiedliche Frequenzen und Rhythmen. Miro wollte etwas fragen, aber Jenni legte einen Finger auf die Lippen.
»Ich glaube, ich höre die Wellen«, sagte sie dann ins Handy.
»Gut. Können Sie auf das Geräusch zugehen?«
»Vielleicht.«
»Versuchen Sie es. Legen Sie aber nicht auf.«
Jenni ging in Richtung des Wellengeräuschs und winkte Miro, ihr zu folgen. Sie kletterten über Steine und Erdhügel, bis sie ein Schimmern zwischen den Bäumen entdeckte.
»Hallo«, rief sie erleichtert ins Handy, »ich sehe das Meer.«
»Na also. Gehen Sie jetzt ans Ufer und schauen Sie, ob irgendwo ein Gebäude zu sehen ist. Wenn ja, gehen Sie am Ufer entlang darauf zu, selbst wenn der Weg ein wenig länger ist. Dann kommen Sie auf jeden Fall ans Ziel, auch bei Dunkelheit.«
Sie gelangten ans Ufer. Jenni blickte zuerst nach rechts, dann nach links. Weit entfernt sah sie ein hohes Satteldach am felsigen Ufer. Das Profil von Markus’ Haus.
»Links sehe ich ein Haus. Und es ist sogar das Haus, wo wir übernachten.«
»Sehr schön«, sagte der Mann. Seine Freude wirkte ehrlich. »Jetzt gehen Sie einfach am Ufer entlang dorthin. Nehmen Sie keine Abkürzung, wenn Sie sich nicht absolut sicher sind.«
»Das ist mir jetzt ganz schön peinlich«, gestand Jenni. »Ganz herzlichen Dank.«
»Nichts zu danken«, antwortete der Mann. »Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.«
Jenni bedankte sich noch zweimal und überlegte, wie der Mann wohl aussah. Wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie diesen gesichtslosen Menschen geheiratet hätte. Sie lächelte, obwohl der Gedanke so traurig war, dass die Beine unter ihr nachgegeben hätten, wenn sie es zugelassen hätte.
Sie blickte aufs Meer und dachte, dass sie diesem Mann alles hätte erzählen können. Ihre Sorge um Miro und die Zukunft. Und dass ihre Gedanken immer wieder um Aarons und Inas Handys kreisten, deren Läuten keiner der beiden gehört hatte. Das quälte sie, obwohl diese beiden Menschen eigentlich letzten Endes keine, überhaupt keine Bedeutung hatten. So ist das Leben , sagte eine gleichgültige Stimme in ihrem Kopf. Vielleicht hatte sie den Satzals Kind gehört. Vielleicht als Erwachsene, aus
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