Schatteninsel
spazieren.«
»Verstehst du nicht?«, fragte Jenni. »Aaron lässt uns hier zurück, wenn wir jetzt nicht sofort mitfahren.«
»Nein, das tut er nicht«, erwiderte Ina und suchte Blickkontakt. »Das verspreche ich dir.«
»Du versprichst mehr, als du halten kannst. Glaub mir.«
»Wir werden sehen. Hol Miro.«
Jenni starrte Ina eine Weile an und hoffte, dass sie die Eifersucht in ihren Augen sah. Das Gefühl ließ sich nicht in Worte kleiden, Jenni konnte nicht aussprechen, was sie empfand. Ina musste es sehen und die Konsequenzen begreifen.
»Okay«, sagte Jenni und wandte sich ab, um Miro zu holen.
Jenni beschloss, eine andere Richtung einzuschlagen als beim letzten Mal. Außer dem Fahrweg gab es allerdings nur den Pfad, der zur Landspitze führte. Eine innere Stimme riet Jenni, erneut ans Ufer zu gehen. Vielleicht würde sie dort Spuren des nächtlichen Leuchtens und der zuckenden Menschen finden. Doch die Erinnerung an die nächtliche Szene war so beklemmend, dass sie sich für die entgegengesetzte Richtung entschied.
Nachdem sie eine Viertelstunde quer durch den Wald gestapft waren, begann Jenni ihren Beschluss zu bereuen. Sie drückte Miros Hand, als sie begriff, dass sie die Orientierung verloren hatte. Bäume und Felsen überall.
»Ich kann nicht mehr laufen«, klagte Miro.
Anfangs war er so schnell gerannt, dass Jenni ihn bremsenmusste. Jetzt hatte das schwierige Gelände den Reiz des Neuen verloren, und die Erschöpfung machte sich bemerkbar.
»Wir gehen gleich zurück«, antwortete Jenni. »Mutti muss nur zuerst den bequemsten Weg finden.«
Bäume. Felsen. Der Instinkt empfahl ihr mindestens drei Richtungen, von denen keine richtiger wirkte als die anderen.
»Was hab ich da auf dem Kopf?«, fragte Miro und zupfte an den Haaren.
»Da ist nichts, glaub mir.«
»Doch«, widersprach Miro und hielt ihr die Hand hin.
Jenni betrachtete das krummbeinige pechschwarze Insekt, das hektisch über die Linien in der blassen Handfläche krabbelte. Sie erinnerte sich an Zeitungsberichte über Hirschlausfliegen, die sie gleichgültig überflogen hatte, in der Gewissheit, diese Tiere hätten nichts mit ihrem Leben zu tun.
»Schmeiß es weg«, sagte Jenni und schüttelte Miros Hand.
Das Insekt verschwand. Jenni klopfte Miros Jacke ab und spürte eine alberne, grundlose Panik, die ihre Gedanken durcheinanderbrachte. Was war schon passiert? Die Insekten waren eklig, hirnlos, aber unschädlich. Und sie konnten höchstens zwei Kilometer vom Haus entfernt sein.
»Gehen wir zurück«, sagte Jenni und fasste Miro an der Hand.
»Von da sind wir aber nicht gekommen«, protestierte der Junge.
»Doch. Nun komm schon.«
Miro konnte keine Ahnung von der richtigen Richtung haben. Er hatte die ganze Zeit auf seine Füße geschaut,war hier und da stehen geblieben, um Baumwurzeln zu untersuchen, hatte vor sich hin geplappert, ohne auf irgendetwas zu achten, das mehr als einen Meter von ihm entfernt war.
Sie gingen eine Weile. Miro klagte, er könne nicht mehr, und Jenni wurde immer nervöser. Schließlich blieb sie stehen. Die Umgebung sah in jeder Richtung gleich aus. Große, moosbewachsene Findlinge. Gerade Kiefernstämme, hier und da Krüppelbirken, Ebereschen und seltsame, konturlose Bäume, deren Namen kein Städter kennen konnte. Ein gleichmäßiges Rauschen, das Jenni, wie ihr plötzlich klar wurde, für fernes Verkehrsgeräusch gehalten hatte. Das war es natürlich nicht. Es war das Rauschen der Menschenlosigkeit, unendlich einsam, gnadenlos.
»Wir sind von da gekommen«, sagte Miro und zeigte nach hinten.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Jenni gereizt, blickte aber dennoch in die angegebene Richtung.
Überall das Gleiche. Steine, Bäume, Rauschen.
»Ich weiß es einfach.«
Darauf ist nun wirklich kein Verlass, dachte Jenni und holte das Handy aus der Tasche. Sie tippte Inas Nummer ein. Das Freizeichen ertönte wieder und wieder, aber niemand meldete sich. Jenni versuchte es bei Aaron. Ohne Erfolg.
Was zum Teufel treiben die beiden, wieso gehen sie nicht ans Telefon?, dachte Jenni. Sie fluchte und bereute es sofort.
»Haben wir uns verlaufen?«, fragte Miro. Er wusste, dass seine Mutter nur in schwierigen Situationen fluchte.
»Natürlich nicht, ich wollte nur …«
Erneut rief Jenni bei Ina, dann bei Aaron an, ohne Erfolg.Sie steckte das Handy in die Tasche und sah sich wieder um. Es war noch hell, aber ohne Orientierungspunkt würden sie womöglich stundenlang umherirren, vielleicht den ganzen
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