Schatteninsel
Miro einen längeren Spaziergang machen würden. Kein Grund zur Sorge und so weiter.
Als Jenni sich bückte, um Miro die Jacke auszuziehen, hörte sie einen Schrei.
Lisas brechende Stimme hallte von den Wänden wider, sodass nicht zu erkennen war, woher sie kam. Im Badezimmer polterte die Bettpfanne auf die Fliesen und Ina stürzte heraus, wusste sofort, wohin sie sich wenden musste. Jenni lief ihr nach, obwohl sie immer noch die schmutzigen Schuhe anhatte. Sie sah Ina in einem Zimmer am Ende des Flurs verschwinden und folgte ihr.
Markus lag im Bett und blickte an die Decke. Lisa hatte sich über ihn gebeugt und umklammerte seine rechte Hand. Ina stand starr da, die Hand vor den Mund gelegt, wie ein Mensch, der endlich beweisen kann, dass das Wunder, das er gesehen hat, wirklich geschehen ist. Jenni spürte, wie Miro sich an sie drückte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und dachte, nun sei Markus gestorben. Jetzt war alles zu Ende, es gab keinen Grund mehr, sich zu quälen. Sie hörte Schritte hinter sich und wusste, dass es Aarons waren.
»Markus hat gesagt, ich soll weggehen«, jammerte Lisa. »Er würde mir nie verzeihen.«
Ina trat vorsichtig zu ihr und berührte sie beinahe. Jenni hörte Aarons unterdrückten Seufzer und stellte sich vor, dass er den Atem angehalten hatte, seit sie mit Miro aus dem Haus gegangen war. Wie viel leichter wäre es für sie alle, wenn Markus tatsächlich einfach gestorben wäre?Das erkannte Jenni nun ganz deutlich, sie hatte Mitleid mit jedem im Raum, sogar mit Lisa.
»Warum soll ich weggehen?«
Lisas Stimme brach. Ihr Gesicht war gerötet und so verzerrt, dass Jenni sich genierte, es anzusehen.
»Lisa«, sagte Ina und streckte erneut die Hand aus. Diesmal legte sie sie behutsam, kaum spürbar, auf Lisas Schulter. »Markus muss ruhen.«
»Fahr zur Hölle«, sagte Lisa leise und schob Inas Hand weg, mit einer ruhigen Bewegung wie eine Geigenlehrerin, die demonstrierte, wie man die Hand halten soll. »Du weißt nicht, wie man sich fühlt, wenn man ein Kind hat.«
Lisas Stimme war nur ein Flüstern, doch sie drang in jeden Winkel des Zimmers.
»Lisa …«
»Markus ist für dich nichts weiter als ein alberner Teenagerschwarm, aber er ist mein Kind. Ich hab doch gesehen, wie du ihn schon damals angeschaut hast, aber Markus hatte ja bloß Augen für die da …«
Lisa sah Jenni nicht an, zeigte aber mit dem Finger auf sie. Der Finger kreiste in der Luft, als wäre sie ein verschwommener, giftiger Dunst.
»Aber das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass mein eigener Mann … der sich nach mir verzehrt und auf Knien um meine Hand angehalten hat und dessen sämtliche Mängel ich ertragen habe … dass er es mir vergilt, indem er mit kleinen Huren herummacht … das hätte ich mir nicht …«
Jenni hielt den Atem an. Das Zimmer war plötzlich brüchig, der ganze tapezierte und wärmeisolierte und verschalte Raum war nur eine Seifenblase, die im nächsten Moment platzen würde. Jenni konnte nicht nach hintenblicken, dahin, wo Aaron war. Sie musste regungslos verharren, wie es jeder vernünftige und kaltblütige Mensch tut, wenn er im Wald auf einen Bären trifft.
Ina umarmte Lisa, tröstete, beschwichtigte. Jenni wollte ihren Augen nicht trauen. Sie war überzeugt gewesen, dass Lisa in dieser Situation jeden Trost zurückweisen würde. Ina hatte offenbar eine Sondergenehmigung, obwohl sie gar nicht wissen konnte, wie es war, ein Kind zu haben. Jenni verspürte den Drang, zu Lisa zu gehen, Ina beiseitezuschieben und zu sagen: Ich weiß es . Sekundenlang schien ihr, als sei das die einzige Lösung. Aaron war nicht fähig, Miro zu lieben, Markus zu lieben. Sie waren Seelenverwandte, Jenni und Lisa.
Und doch hatte Ina das Recht, die Wut zu besänftigen, von der Lisa besessen war. Ina, die von nichts etwas wusste, die immer rein und makellos war, weil sie nie wirklich gelebt hatte.
Aarons Stimme riss Jenni aus ihren Gedanken.
Sie wusste nicht, was er gesagt hatte, wusste aber, dass sie seine Stimme gehört hatte. Ihre Haut prickelte, als hätte sie Schmerzen erwartet. Eine Nadel oder eine scharfe Klinge.
»Wir bleiben noch«, wiederholte Aaron.
Seine Stimme klang ruhig, obwohl er gerade gehört hatte, wie Lisa über Dinge wütete, die ihm etwas bedeuten sollten.
Jenni verstand die Worte erst nach einer Weile und spürte eine unbestimmte Erleichterung. Natürlich bleiben wir, klar. Ina, dieser gute Mensch. Kümmerte sich um den betrunkenen Vater. Brachte Blumen auf
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