Schatteninsel
wenn Ina am Esstisch nicht unterbrochen worden wäre. Vielleicht gar nichts. Warum hätte Ina überhaupt enthüllt, dass Markus Miros Vater war? Ina, die nur wollte, dass sich alle vertrugen.
Aaron schnarchte leise. Jenni starrte an die Decke und merkte, dass sie auf das rote Leuchten wartete. Das war ihr ureigenes Geheimnis, ein an sie gerichtetes Zeichen dafür, dass es außerhalb dieses Zimmers Leben gab, sehenswerte Dinge. Sie dachte an die graue Kapelle und an die alte Frau am Ufer. An Miro, wie er über den Waldweg lief, und an das Licht, das ihr zu sagen versuchte, dass das Glück injenen kleinen Momenten lag, in denen nichts Vergangenes oder Künftiges existierte. Vielleicht war dem Menschen nichts anderes gegeben. Nichts anderes. In jüngeren Jahren glaubte man, dass noch etwas Großes auf einen zukam. Irgendein großes Wunder würde geschehen, wenn man nur ein Frachtschiff bestieg, mit nichts weiter als einem Rucksack, völlig frei, in einem anderen Land den Mond anschaute, einen Fremden küsste, in einem Tempel irgendwo in Indien meditierte. Aber es war alles das Gleiche. Das metallische Motorengeräusch der Frachtschiffe, die fetten Eltern der Fremden, die graue Routine der Tempel.
Als der rote Schein ausblieb, stand Jenni auf und schlich ins Bad. Sie machte Licht und betrachtete sich im Spiegel, hob die Augenbrauen und spitzte den Mund, lächelte dann. Das war der Mensch, den die anderen sahen. Noch schön, dass wusste sie. Doch mit sich selbst, mit dem Ich, das durch die Tage wanderte und litt, wusste sie die schöne Frau im Spiegel nicht zu verbinden. Mit dem Ich, das sich immer über Ereignisse wunderte, die Jahre zurücklagen.
Sie löschte das Licht und legte sich wieder ins Bett. Irgendwann begannen ihre Gedanken sie in den Schlaf zu ziehen. Welch barmherziger Zustand.
Im Einschlafen sah sie die alte Frau mit der Kapuze, die an die Landspitze ging und rückwärts ins Wasser fiel. Die Wellen trugen nur ihren Mantel ans Ufer. Er rieb sich an den Steinen wie ein Tier, das aufs Trockene will. Jenni nahm ihn in die Hand, ließ ihn aber sofort wieder los, denn er stank entsetzlich. Sie schaute ins Wasser und sah, wie sich die nackte blasse Leiche der Frau drehte, von der Wellenbewegung verzerrt, ein erstarrtes, halb vom Schlamm verdecktes Lächeln im Gesicht. Jenni dachte an die aufgedunsene Haut und an den schwarzen Schlick, derin den Mund und in die Kehle rann. Daran war nichts Schlimmes, alles im Meer war ein und dasselbe. Der Blick der Frau war offen, aber unbeweglich. Ensam med Gud .
Jenni schreckte auf und tastete nach einem Menschen neben sich. Nicht nach Miro, nicht nach Aaron, sondern nach Markus.
E s gab eine Zeit, in der Jakob bedingungslos glücklich gewesen war. Er war morgens erwacht, alltägliche Gedanken im Kopf und Liebe zu gewöhnlichen Dingen im Herzen. Kühe gaben Milch, Boote wurden gebaut, Milch butterte, Kaufleute verkauften, Pferde liefen, Kinder wurden geboren.
Katharina brachte zwei gesunde Töchter zur Welt. Mehr Kinder waren ihnen nicht beschieden, doch es genügte. Morgens ging Jakob zum Brunnen, unterhielt sich mit den Leuten. Abends betrachtete er die Bootsschuppen am Hafen, die im Licht der untergehenden Sonne kirschrot leuchteten.
Selbst im Winter, wenn der Wind durch die Straßen strich, war Jakob nicht bereit, die Falschheit der Welt zu sehen. Er sah nur die Glut in der Feuerstelle und die Umrisse seiner Kinder, die sich daran die Hände wärmten. Das Heulen des Windes, seinen sinnlosen Hass, hörte er nicht.
Bisweilen geschah es jedoch, dass er seinen Namen hörte, obwohl niemand da war.
Nur ein Wort: Jakob .
Das geschah vielleicht ein, zwei Mal im Jahr. Meist früh am Morgen, wenn er Wasser holte. Oder spätnachts, wenn der Schlaf nicht kommen wollte. Jakob vermochte die Stimme mit keinem ihm bekannten Menschen in Verbindungzu bringen. Es war eine ruhige Stimme, fast ein Seufzer.
In diesen Momenten fühlte Jakob sich verletzlich. Er schrak gewissermaßen auf in seiner sterblichen Hülle, erinnerte sich an die Geschichten von Teufeln, welche die Seele eines Menschen zerbrechen und ihn einem Schwein gleichmachen konnten, das sich im Schlamm wälzt. Zwei Tage, nachdem er die Stimme gehört hatte, war Jakob immer noch zerstreut. Er fuhr inmitten seiner Beschäftigung auf und merkte, dass er vor sich hin gestarrt hatte, tief in Gedanken. Er betrachtete Katharina, die am Herd arbeitete, und seine Kinder, die über den Hof liefen, und wälzte düstere
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