Schatteninsel
Recht, uns zu lieben, selbst wenn sich die ganze Welt gegen uns stellt. Es war ein Herbstabend gewesen, und immer, wenn ein Windstoß am Fenster rüttelte, hatte Jenni das Gefühl gehabt, in die Luft gehoben zu werden, gehalten von Aarons Sicherheit, von der Härte, mit der er sein Recht einforderte zu leben. Wir habennur dieses eine Leben. Keine Kompromisse, keine Angst. Aaron hatte sie geweckt, hatte sie zu der umwerfenden Erkenntnis geführt, dass ihre Hände ihren Entscheidungen gehorchten, dass sie ihrem Herzen folgen durfte, wenn sie es wollte. Die Welt war nicht untergegangen, als sie Markus’ Nummer gewählt und die Worte gesagt hatte, im Gefühl vollkommener Kraft und Klarheit. Ich heirate Aaron. Ja. Deinen Vater.
Aaron betrachtete den Weinfleck, der sich auf der Serviette ausbreitete, lachte verlegen auf und entschuldigte sich.
»Ich weiß nicht, was …«
Jenni saß nur da und beobachtete.
An der Bewegung von Aarons Schultern sah man, dass er sich unter dem Tisch die Hände rieb. Es sah anstößig aus, als ob er sich zwischen den Beinen rieb. In Jennis Erinnerung tauchte ein weiteres Bild auf, das sie bewusst verdrängt hatte. Es stand plötzlich da wie ein lädiertes Möbelstück, das man immer vor der Nase hat, aber nie zur Reparatur bringt. Sie war ins Obergeschoss zurückgekommen, um Miros Schal zu suchen, der überall liegen konnte. Durch den Türspalt hatte sie Aaron gesehen, der in seinem Arbeitszimmer am Laptop saß und sich ein verwackeltes Video ansah, auf dem eine schwangere Frau den Schwanz eines bleichen, mageren Mannes massierte. Aus den Lautsprechern kam kraftloses Grunzen.
Als wäre er bei der Arbeit, hatte Aaron voll bekleidet auf dem Stuhl gesessen und sich durch die Hose hindurch gerieben. Wie eine Frau. Jenni hatte Miros Schal vergessen, war nach unten geschlichen und aus dem Haus gegangen. Hatte auf der Treppe gestanden, die Augen fest geschlossen, die Schultermuskeln gespannt und sich denBauch gehalten. Der Schmerz war ihr heftig und wirklich erschienen, obwohl sie gewusst hatte, dass sie ihn sich nur einbildete. Es gab Dinge, auf deren Anblick sie nicht vorbereitet war. Überraschende, banale Dinge, die ihren Orientierungssinn vollkommen verwirrten.
Nun beobachtete sie das Zucken in Aarons Gesicht, die unnatürliche Reglosigkeit seiner Arme. Ina war an ihren Platz zurückgekehrt. Sie sagte etwas zu Aaron. Jenni hörte nicht zu.
Als Miro sich satt gegessen hatte, bedankte sich Jenni, stand auf und brachte den Jungen nach oben.
Miro war bereits eingeschlafen, als Aaron heraufkam. Jenni war noch wach, stellte sich aber schlafend. Aaron zog sich aus und ging dann im Schlafanzug ins Bad, um die Zähne zu putzen. Der Wind rüttelte am Haus, ließ draußen irgendetwas scheppern. Ein gleichmäßiges, metallisches, einsames Geräusch. Das Plätschern des Wassers im Waschbecken, das leise Rauschen der Spülung. Jenni lag reglos da, bis die Schritte zurückkehrten und Aaron ins Bett fiel.
Er hüstelte zweimal und rollte sich auf die Seite. Jenni wollte sich nicht die Blöße geben zu fragen. Doch die Versuchung war zu groß.
»Was hat sie heute früh gesagt?«, flüsterte sie.
Aaron hielt den Atem an.
»Wer?«
»Na wer schon. Ina. Warum hast du beschlossen zu bleiben?«
Ein Schnauben.
»Sie hat die Lage aus ihrer Perspektive erklärt«, sagte Aaron leise. »Markus ist immerhin …«
Jenni hielt den Atem an, während sie auf die Fortsetzung wartete. Als nichts mehr kam, fürchtete sie, Aaron sei eingeschlafen, habe sie in diesem Zustand der Kränkung und des Verfolgungswahns zurückgelassen, in dem sie bestimmt keinen Schlaf finden würde.
»Sie hat dir also erzählt, dass Markus bloß noch vor sich hin vegetiert und bald stirbt?«, fragte Jenni. »Und das hat dich in väterlichen Gram gestürzt? Tut mir leid, aber das kann ich mir nicht vorstellen, beim besten Willen nicht.«
Aaron seufzte. Oder gähnte er?
»Lisa hat ihren Sohn wenigstens immer geliebt«, fauchte Jenni und merkte, dass sie weinen musste, wenn sie auch nur noch ein einziges Wort sagte. Das Gefühl wurde rasch stärker, der Hals wurde ihr eng.
»Du weißt überhaupt nichts«, murmelte Aaron. »Armes Mädchen.«
Hilflos lauschte Jenni auf den Nachhall der letzten Worte. Er zog durch die Gehörgänge, blieb ihr im Ohr haften, verwandelte sich in Lisas Stimme. Das unwissende arme Mädchen. Du weißt auch nichts , hätte Jenni gern gesagt, doch sie brachte es nicht fertig.
Sie überlegte, was geschehen wäre,
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