Schatteninsel
Umgebung. Am Bootssteg schaukelten zwei flache Boote mit Mittelmotoren. Am Ufer, nahe am Wasser, stand ein barackenartiges Gebäude, an dessen Tür ein Plakat für Sonderangebote warb. Das musste der Laden sein. Hinter dem Haus befanden sich Benzintanks und Zapfsäulen, nah genug am Steg, um die Boote auftanken zu können, und etwas weiter weg waren zwischen den Bäumen zwei Hausdächer zu sehen. Diese bescheidenen Anzeichen der Zivilisation hellten Jennis Stimmung auf.
Miro stieg aus und wollte ans Ufer laufen, doch Ina fasste ihn an der Hand, bevor Jenni etwas sagen konnte. Der Junge riss sich nicht los, sondern verlangsamte den Schritt und passte sich Inas Tempo an. Jenni stieg aus und sah ihnen beinahe eifersüchtig nach.
Der Laden war klein. Zwischen den Regalen war gerade genug Platz für eine Person. Miros Jacke brachte Kekstütenund Küchenpapierrollen zum Knistern, als er durch den Laden ging. Ina trug ihre Einkäufe – Waschpulver und Petroleum – zur Kasse und bat auf Schwedisch um Milch. Die starr lächelnde Verkäuferin holte zwei Packungen aus dem Hinterzimmer und nannte den Preis.
»Trinken wir Kaffee?«, fragte Ina, während sie die Einkäufe in einen Stoffbeutel packte.
Jenni nickte, fragte sich allerdings, ob sie den Kaffee in einem der schmalen Durchgänge zwischen den Regalen trinken sollten. Ina bestellte, und die Frau füllte zwei Pappbecher. Jenni nahm einen davon und lächelte die Verkäuferin höflich an.
»Vielleicht eine Limonade für Miro«, schlug Jenni Ina vor, um nicht selbst bestellen zu müssen.
»Richtig.«
Die Verkäuferin ging wieder ins Hinterzimmer. Jenni hörte, wie ein Kühlschrank geöffnet wurde und Flaschen klirrten. Sie betrachtete die gerahmten Fotos an der Wand hinter dem Ladentisch. Menschen in altertümlicher schwarzer Tracht, die lächelten und sich an den Händen hielten. Auf einem Bild stand eine große Schar, etwa fünfzig Menschen, mit offenen Mündern auf einem Uferfelsen. Jenni blinzelte; sie hätte Ina gern gefragt, was das Bild darstellte, dachte aber, das sei unhöflich, weil die Verkäuferin gleich zurückkommen musste. Dann fiel ihr Blick auf ein Foto, auf dem ein Mann in ehrwürdiger Haltung ein schwarz eingebundenes Buch hielt und sang oder sprach. Seine Gestalt war verschwommen, denn der Fotograf hatte den Fokus auf die lächelnde Frau am unteren Bildrand gerichtet, in der Jenni die Verkäuferin erkannte. Auf dem Bild hatte sie kürzere Haare, aber die Gesichtszüge waren unverkennbar. Doch dann zog der Mann mit dem BuchJennis Blick wieder auf sich. Es war, als sähe er sie an. Plötzlich erkannte sie ihn.
»Ina«, flüsterte sie.
»Was denn?«
»Da auf dem Foto, ist das Markus?«
Ina beugte sich über den Ladentisch und sah das Bild an, auf das Jenni zeigte.
»Nein«, murmelte sie. »Wieso sollte er das sein?«
»Ich finde, das ist Markus.«
Ina schaute genauer hin, schüttelte den Kopf und drehte sich zu Jenni um.
»Jenni, Liebes«, sagte sie, »das ist nicht Markus. Wir sind nie bei Veranstaltungen der Einheimischen gewesen.«
Jenni konnte den Blick nicht von der Gestalt lösen. Je länger sie hinstarrte, desto größer wurde ihre Unsicherheit. Kein Detail war deutlich zu erkennen, man konnte alles Mögliche in die Figur hineinlesen, wie bei einem Rorschach-Test. Aber die Haltung wirkte unsagbar vertraut. Plötzlich hörte Jenni sich sagen:
»Aber Markus kann dort gewesen sein.«
»Wie meinst du das?«, fragte Ina.
»Er hat doch über die Insel geforscht. Vor dem Unfall.«
Ebenso gut hätte sie sagen können: Damals, als Markus noch richtig am Leben war. Damals, als ich mit ihm zusammen war .
Die Frau brachte die Limonade und sagte irgendetwas zu Miro, der schnaubte und zur Tür ging.
»Quatsch, das ist nicht Markus«, erklärte Ina barsch und wandte sich ab. »Glaub mir!«
Jenni betrachtete Inas Rücken und spürte mit Schuldgefühlen gemischte Siegesfreude. Plötzlich kam ihr einEreignis aus der Kindheit in den Sinn. Die Religionslehrerin hatte in der Schule von Lucia erzählt, und Ina war wochenlang ganz aus dem Häuschen gewesen, hatte ihre Mutter um ein weißes Kleid und eine Kerzenkrone gebeten und Jenni von der wirklichen italienischen Lucia erzählt, die wegen ihres Glaubens eingekerkert und gefoltert wurde. Doch Gewalttaten konnten der Heiligen nichts anhaben. Alle Wunden heilten. Als die Wärter ihr die Augen ausstachen, wuchsen neue nach.
Jenni hatte die ganze Geschichte und vor allem Inas Gehabe angewidert. Sie
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