Schatteninsel
braucht Geld«, erklärte Jenni schließlich, sich selbst, Ina, den Wellen.
Sie dachte an endlose Gespräche und Betteltelefonate, an lange Abendessen und Kalkulationen. Wie viel die Kampagne kosten würde und so weiter.
»Ina.«
»Ja?«
Jenni hielt die Augen immer noch geschlossen, sie hätte sonst nicht sprechen können.
»Ich hab Markus an dem Abend angerufen.«
Ina sagte nichts. Der Wind und die Wellen rauschten.
»Er wollte mir nicht glauben. Er hat nur gelacht, als ich ihm gesagt habe, dass Aaron und ich zusammenziehen. Ich weiß, wie weh es ihm getan haben muss, aber ich dachte irgendwie, dass er mich schon von sich gestoßen hatte. Ich wollte ihm nicht wehtun.«
Du lügst , sagte eine anklagende Stimme in Jennis Kopf.
»Er hat sich bestimmt sofort ins Auto gesetzt, um zu mir zu fahren. Ich werde den Gedanken nicht los, dass er den Unfall wegen Aaron und mir hatte. Dass er eine Hundertstelsekunde lang sterben wollte, weil Aaron und ich etwas so …«
Jenni schaute Ina an, deren Gesicht weder Wut noch Erschütterung verriet. In dem Moment begriff Jenni, wie viel Ina geopfert hatte. Sie begriff es wirklich.
»Woher nimmst du diese Güte?«, fragte Jenni.
Ina antwortete nicht. Jenni hatte auch keine Antwort erwartet.
»Du bist ein guter Mensch. Du hast immer einen Anker gehabt, deinen Jesus oder sonst was. Ich … ich hab nie so was gehabt. Ich dachte immer, hinter der nächsten Ecke erwartet mich etwas noch Besseres, die endgültige Freiheit oder so … ich weiß nicht. Manchmal hat er mich zerrissen, dieser Zwang weiterzurennen, als würde irgendwas Entsetzliches passieren, wenn ich stehen bleibe.«
Plötzlich erinnerte Jenni sich an die Katzen, die sie damals, vor langer Zeit, auf Santorini gesehen hatten. Das zerquetschte Junge auf der Straße und die Mutter, die sein Fell leckte. Der Anblick hatte ihr während der Urlaubsreise immer wieder vor Augen gestanden, trotz der lachenden Menschen rundherum, trotz der endlosen Marktgassen und des bis an den Horizont reichenden warmen Meeres. Jenni kniff die Augen fester zusammen und stieß unwillkürlich einen Klagelaut aus, beugte sich vor, als wäre in ihrem Magen ein schneidender Schmerz erwacht.
»Du hast jetzt auch einen Anker«, sagte Ina. »Miro.«
Jenni riss die Augen auf und sah sich nach Miro um. Er stand nur etwa zwanzig Meter von ihr entfernt am Ufer und warf Steine ins Meer. Jenni stellte sich vor, wie der Stein die Wasseroberfläche durchbrach und an den unbeweglichen Fischen vorbei auf den Grund sank. Ihre Schultern zuckten, obwohl sie nicht weinte. Ihre Arme hatten sich um den Bauch gelegt, wie um einen Schmerz zu lindern, der nicht existierte. Sie jammerte und krümmte sich, verlangte, Schmerz empfinden zu dürfen.
»Vielleicht spricht Gott durch Miro zu dir«, sagte Ina.
Jenni betrachtete den Jungen im Sonnenlicht, seine ungeduldigen energischen Bewegungen, und hoffte, dass sie ihn glücklich machten. Dass er genug Glück sammelte, bevor er erwachsen wurde. Jenni würde ihn nicht immer schützen können.
»Vielleicht«, antwortete sie. »Aber was ist das für ein Gott, der durch Menschen spricht? Was kann man mit so einem anfangen? Soll er sich doch zeigen und offen sagen, was er will. Und sich um seine Kinder kümmern.«
Niederschmetternde Traurigkeit überfiel sie, sobald sie diesem Gedanken, von dem sie nicht einmal recht wusste, was er bedeutete, Raum ließ.
»Doch, er spricht«, sagte Ina mit ausdruckslosem Gesicht. »Durch Miro.«
Jenni spürte, wie Ina den Arm um sie legte. Das fühlte sich so seltsam an, als hätte der Wind sich in eine Berührung verwandelt und ihre Schultern zusammengedrückt. Sie saßen lange so da, dann wischte sich Jenni das Gesicht ab, obwohl keine Tränen darauf waren.
»Du weißt, dass Aaron nicht Miros Vater ist«, stellte Jenni fest.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Ina nickte.
Der Himmel hatte sich rasch verdunkelt. Jenni hatte nicht darauf geachtet, doch plötzlich fielen schwere Regentropfen auf den Tisch und in die Pappbecher. Natürlich wusste Ina es.
Als Jenni Markus erzählt hatte, dass sie schwanger war, hatte er einen Wutanfall bekommen. Noch nicht , hatte er am Telefon geschrien. Du begreifst nicht, mit was ich hier beschäftigt bin .
Das stimmte. Jenni hatte es tatsächlich nicht begriffen. Und sie verstand es immer noch nicht. Völlig unangemessenund unnötig, hatte sie damals gedacht. Und unverzeihlich.
»Eigentlich müsste also Miro Markus beerben«, sagte Jenni und
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