Schatteninsel
schlitzte ihm den Hals auf, schnell und mitten im Gespräch, sodass Ulstadius noch ein Wort und dann noch eins sagte, leise und röchelnd. Der Prophet hatte nicht damit gerechnet, dass ihn der Tod so ereilen würde. In einem kleinen Zimmer, verborgen vor den Blicken seiner bewundernden Jünger.
Als Ulstadius auf dem Boden lag, zeigte Jakob ihm den kleinen Spiegel. Er hielt ihn genau über sein Gesicht. In den Augen erwachte kein Funke. Keine Erkenntnis. Jakob steckte den Spiegel in die Tasche. Er setzte die Messerspitze über Ulstadius’ Herz an.
Vorherbestimmt , sagte er und versenkte das Messer mit dem ganzen Gewicht seines Körpers.
D as Rauschen der Erinnerungsbilder zog sich zurück wie eine Welle, die die Uferfelsen freilegte und eine seltsame Stille zurückließ. Die Dunkelheit war plötzlich da, blank und einfach. Markus hob die Hand und sah ihre blasse bläuliche Form. Als er sie betrachtete, begriff er, wo er war. Und dass Menschen im Haus waren. Er kannte ihre Namen.
Markus setzte sich auf, schob die Beine über den Bettrand und ließ die Zehen langsam auf den Fußboden sinken. Eine nach der anderen legten sie sich auf das kühle Parkett. Die Berührung löste keine Erinnerungswoge aus. Er war immer noch hier. Er roch seinen Schweiß, den Stoffgeruch des Zimmers, den Atem der neben ihm schlafenden Frau.
Ina. Markus sagte sich den Namen in Gedanken vor, hoffte, er würde Erinnerungen wecken.
Die Frau war auch früher schon in sein Bett gekommen. Hatte ihn gestreichelt. Sich auf ihn gesetzt. Markus hatte nichts gespürt, außer einem müden Krampf, wenn er ejakulierte. Danach hatte die Frau jedes Mal geweint und gebetet. Markus hatte nie verstanden, worum sie bat. Manchmal kamen auch andere Menschen in das Zimmer, Menschen, an deren Namen er sich nicht erinnerte. Sie stellten zu schwierige Fragen. Baten um Anweisungen, die er ihnen nicht geben konnte.
Markus stand auf, streckte die Arme seitlich aus, bis er das Gleichgewicht fand, ging dann in den Flur. Er freute sich über jeden Schritt, den er in der Dunkelheit machen konnte, ohne dass die Erinnerungswellen über ihn hinwegrollten und ihn in ein Chaos stürzten, in dem sich die Zeiten vermengten und im Scheinwerferlicht das feuchte Auge eines Elchs glänzte.
Aus irgendeinem Grund führten ihn die Schritte ins Obergeschoss. Markus spürte die glatte Lackfläche der bei jedem Schritt leicht nachgebenden Holzstufen unter den Fußsohlen. Auf dem oberen Treppenabsatz ging er zu der Zimmertür und starrte die Buchstaben auf dem Schild an, einen nach dem anderen, unfähig, sie zu Worten zu verbinden. Durch die Buchstaben und das Holz hindurch konnte er in das Zimmer sehen. Sich den rechteckigen türkisfarbenen Teppich vorstellen, der zum Schreibtisch führte. Darüber war ein Fenster, durch das man die Landspitze, die Steinhaufen und beinahe auch das Gebetsgrab sah. Auf der linken Seite des Schreibtisches, in der zweiten Schublade von oben, befand sich eine schwarze Pappschachtel. Darin lag der Schädel. Daneben eine Blechdose. Darin krumme dunkle Körner, wie schwarz gewordene Wolfszähne. Markus’ Kopf füllte sich mit einem Erinnerungsbild, jemand hatte den Schädel in Händen gehalten, die Körner gezählt, Namen aufgesagt. Wer war das?
Er schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren, doch da überfielen sie ihn. Die Erinnerungen. Markus lehnte sich an die Tür und zwang sich, die Augen zu öffnen. Betrachtete die Buchstaben auf dem Schild. Ihre resoluten Formen waren ein Anker im Sturm der Erinnerungen. Sie halfen ihm, im Hier zu bleiben. Die Erinnerungen zogen sich zurück.
Er trat einen Schritt zurück. Noch einen. Wandte den Blick zur nächsten Tür.
Sie war zuerst nur ein dunkles hochkantiges Rechteck in der blassweißen Wand. Dann flammte irgendwo ein Licht auf. Es blendete ihn zunächst, zeigte dann aber alles hell und deutlich. Die ganze Welt war beleuchtet. Das Meer duftete. Die Luft schmeckte nach Salz. Der Geruch von Kokosschnaps. Abgase. Heißer dunkler Sand. Dann waren das Licht und der Geschmack und die Gerüche verschwunden. Die Dunkelheit war zurückgekehrt.
Markus ging auf das Rechteck zu, streckte die Hand aus, zuckte zusammen, als die Fingerspitzen nicht in der Dunkelheit versanken, sondern Holz berührten. Die Klinke senkte sich träge. Langsam öffnete sich die Tür.
Licht.
Das Mädchen stand da, die Zehen im kühlen Sand. Ihr Gesicht war schön, die Schatten legten sich genau richtig darauf. Hinter ihr stand ein
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