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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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konnte nicht begreifen, weshalb ihre Schwester sich so für irgendeine Jesus-Frau begeisterte, die in einem Kerker gefoltert worden war.
    Aber als für den festlichen Umzug in der Schule eine Lucia gesucht wurde, hatte der Musiklehrer Jenni gebeten, die Aufgabe zu übernehmen. Sie war überrascht gewesen, hatte aber sofort zugestimmt, ohne eine Sekunde zu zögern. Als die Prozession dann durch die Schulflure zog, war Jenni stolz an der Spitze gegangen und hatte über ihre Kerze hinweg die Mitschüler vor den Klassenzimmern gemustert. Sie hatte Inas Gesicht gesucht.
    Draußen setzten sie sich auf eine kleine Terrasse, die Jenni zuvor übersehen hatte. Es war ein flaches, mit einem Zaun aus naturbelassenem Holz abgetrenntes Podest, auf dem drei Tische mit Aschenbechern standen. Miro trank von seiner Limonade, verzog das Gesicht und schaukelte mit den Beinen.
    »Ich will ans Ufer«, sagte er, als seine Flasche zur Hälfte leer war.
    Jenni erlaubte es ihm, denn von der Terrasse aus konnte sie das Ufer der kleinen Bucht überblicken.
    Als Miro zu den Uferfelsen gelaufen war (und Jenni ihm zugerufen hatte, er dürfe nicht näher ans Wasser), begann Ina von der Insel zu erzählen. Jenni hörte zerstreut zu. Weltkulturerbe. Schärentraditionen. Blabla. Schließlich konnte sie nicht mehr an sich halten.
    »Wie hast du Aaron dazu gebracht hierzubleiben?«
    Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Ina in der Haltung erstarrte, in der sie gerade erklärt hatte, weshalb die Inselbewohner dagegen waren, dass die Fähre durch eine Brücke ersetzt wurde. Ina war mitten im Satz verstummt.
    Plötzlich sah Jenni ganz deutlich, wie es sich abgespielt haben könnte. Es war nicht unbedingt passiert. Aber es hätte passieren können . Jenni machte sich keine Illusionen über Aarons Treue. Sie kannte ihren Mann, auch wenn sie es sich selbst gegenüber ungern zugab. Aaron musste Grenzen verletzen, musste sich frei fühlen, zu tun, was er wollte. Deshalb hatte ja auch ihre Beziehung angefangen. Ein machthungriger, adrenalinabhängiger Mann, der ausgerechnet die Frau vögelte, die er nicht anrühren dürfte, und zwar ausgerechnet an einem Ort, wo es absolut verboten war. Zum Beispiel in dem Haus, in dem sein kranker Sohn, der Sprache nicht mehr mächtig, vor sich hin sabberte. Mitunter hatte Jenni sich dabei ertappt, dass sie dachte: Zum Glück ist Miro kein Mädchen . Das waren vorbeihuschende schwarze Momente.
    Zwischen Ina und Aaron hat nichts passieren können, sagte Jennis Verstand. Sie hatten keine Gelegenheit dazu gehabt, waren nicht lange genug ungestört gewesen. Aber bei Aaron musste man auf alles gefasst sein. Und Ina war einsam. Wäre sie stark genug zu verzichten, wenn sie die Gelegenheit hätte, etwas zu bekommen, was Jenni gehörte?
    »Markus hat ja keine Kinder«, begann Ina zögernd.
    Jenni trank gelassen von ihrem Kaffee, sie zeigte keine Reaktion.
    »Und er ist ziemlich wohlhabend. Wahrscheinlich wisst ihr gar nicht, wie reich er ist.«
    Nun sah Jenni Ina an.
    »Na und?«
    Ina seufzte und lächelte irgendwie traurig.
    »Markus hat ein Testament gemacht, in dem er alles mir hinterlässt. Vor einiger Zeit, als er noch längere helle Momente hatte.«
    Jenni blickte Ina an und überlegte, worauf das Ganze wohl hinauslaufen sollte. Sie konnte die Zusammenhänge nicht erkennen. Das einzige klare Gefühl war eine Art unwillkürliche Wut darüber, dass sie leer ausgehen sollte. Es ging ihr nicht um Geld, aber sie wollte auch ein Stückchen von Markus.
    »Was hat das mit Aaron zu tun?«, fragte sie.
    Ina drehte ihren Pappbecher zwischen den Fingern.
    »Ich habe ihm gesagt, wenn er bleibt, vernichte ich das Testament. Ich wollte es immer schon ins Bankschließfach bringen, aber ich bin nie dazu gekommen.«
    Jenni schwieg lange, sie versuchte, Inas Gedankengang zu folgen.
    »Und dann?«, fragte sie schließlich.
    »Aaron und Lisa erben alles.«
    Jenni verstand die Worte, weigerte sich aber immer noch zu begreifen.
    »Wenn man keinen Nachwuchs und keine Geschwister hat, erben die Eltern. Mir macht das nichts aus. Es ist mir wichtiger, dass Markus nicht mit der Gewissheit von uns gehen muss, dass die Menschen, die er am liebsten hat, sich hassen.«
    Jenni schloss die Augen.
    »Und deshalb war Aaron bereit zu bleiben?«, fragte sie.
    Sie brauchte die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, dass Ina nickte.
    »Wie konntest du nur?«, flüsterte Jenni. »Wenn Markus wollte, dass du …«
    Drückende Stille legte sich zwischen die beiden.
    »Er

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