Schattenjagd
aus der Blackman Hall abgehauen und lebt seitdem auf der Straße, ist immer mal wieder wegen Prostitution angeklagt worden. Gehört zur Bande von Diamond Ricky.“
„Hatte keine lange Kindheit, die Kleine.“ Saul sagte das, damit ich es nicht tun musste. Ich drehte das Foto um, legte die Aktenmappe auf den Schreibtisch und ging alles aufmerksam durch.
Die Bilder vom Tatort waren ebenso schonungslos wie das erste. Jemand hatte das Mädchen am äußersten Rand des Parks abgeladen, direkt auf dem Schotterstreifen, der an die Straße grenzte. Die Varkell Street biegt von der Zweiundachtzigsten ab, und in dieser Kurve hatte die Kleine gelegen. Jedes Foto war aus einem anderen Winkel aufgenommen und orientierte sich an drei Vermessungsschildern. Die Leiche auf dem blutdurchtränkten Kies lag auf der Seite, Arme und Beine waren übel zugerichtet und zerdrückt. Obwohl ich mir Mühe gab, fand ich keine Anzeichen für Innereien.
Wenn sie irgendwo anders umgebracht worden ist, dürfte es dort ziemlich eklig aussehen. Was ordentlich Beweismaterial bedeuten sollte. Aber Carp hat recht. Diese ganze Geschichte ist … eigenartig.
Ein kalter Hauch liebkoste meinen Nacken, als auf einmal der Pager an meiner Hüfte zu vibrieren anfing. Das kleine Geräusch machte die plötzliche Stille im Raum umso auffälliger.
Ich griff nach dem Pager, hielt ihn hoch und warf einen Blick auf die Nummer.
Himmel. Ein Unglück kommt selten allein.
„Dieser Fall fällt in meinen Bereich.“ Mit ein paar schnellen Handgriffen sammelte ich die Papiere zusammen. „Ist das meine Kopie?“
„Nimm sie ruhig mit. Ich hatte mir schon gedacht, dass du die Unterlagen willst.“ Carps Gesicht hatte jede Farbe verloren. „Wonach sieht das für dich aus, Kiss?“
Ich weiß es nicht, und das macht mir Sorgen. „Wird sich zeigen. Ich halte euch auf dem Laufenden. Falls noch mal das Gleiche passiert, ruft und piept mich an. Alles klar?“
„Klar.“
Ich reichte Saul die Aktenmappe und nickte Montaigne zu, der um die Nase ganz grün geworden war. Monty hasste es, wenn ich nicht mit der Sprache herausrückte. Fast genauso sehr, wie wenn ich den Mund aufmachte und ihm Einzelheiten über die Schattenwelt verriet. Einmal war er einem Trader über den Weg gelaufen, der seine Seele für Beinahe-Unsichtbarkeit und Superkraft eingetauscht hatte. Bis ich auftauchte, hatte er Monty zu Brei geschlagen und ihm einen Heidenrespekt eingejagt. Dann endlich machte ich den Typen mit vier Magazinen und einem Trick fertig, den ich eines Sommers im Santaria-Revier in Viejarojas von Leons Lehrmeister Amadeus gelernt hatte.
Drei Monate lang hatte Monty im Krankenhaus verbracht, bevor er wieder auf den Beinen gewesen war. Seitdem wollte er von den Nachtschatten weder etwas sehen noch hören.
Schlau von ihm.
„Bis später, Monty.“
„Mach’s gut, Jill. Und viel Glück.“
Mehr Dank oder Abschiedsworte brachte er nie über sich.
4
Vater Guillermo hielt sich mit Basketball fit. Sein Gesicht war umrahmt von schwarzen Locken und ebenso blass, ernst und müde wie das eines byzantinischen Engels. „Tochter Julian. Dem gütigen Herrn sei Dank.“
Ich verzog das Gesicht, aber wenn überhaupt jemand damit durchkam, mich so zu nennen, dann er. „Morgen, Vater. Ihr habt angerufen?“ Ich spürte die Dunkelheit in meinem Rücken, als ich aus der kühlen Nacht über die Türschwelle hinein in die Stille des Seminars trat. Saul folgte mir mit leisen Tritten und bleckte dem Priester die Zähne zum Gruß. Bereits daran gewöhnt, blieb der völlig ungerührt. Werwesen sind nicht gut auf die Kirche zu sprechen, und das konnte ich ihnen, weiß Gott, nicht verdenken. Irgendwo hat jede Spezies ihre Grenzen, wenn sie zu lange verfolgt worden ist.
Der Umstand, dass nicht alle Wer so ganz unschuldig waren, war natürlich auch keine große Hilfe. Trotzdem, die Inquisition hatten sie nicht verdient.
Niemand hatte das verdient, zumindest wenn man mich fragt. Und auch die andere Hälfte von Sauls Vorvätern hatte unter den Christen gelitten.
Daran erinnern sie sich noch gut, draußen im Reservat.
„Ich bin froh, dass du gekommen bist.“ Wenigstens war Guillermo immer froh, mich zu sehen. Von allen Priestern, mit denen ich bisher zu tun gehabt hatte, war er mir mit Abstand der liebste. „Wir haben … schon wieder einen.“
War mir klar, warum hättest du mich sonst rufen sollen. Aber ich hielt mich zurück. Wenn ich eine Klasse Frischlinge unterrichtet hatte, hatte ich
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