Schattenkampf
möglich, dass sie beide hier waren? Wie hatte es so weit kommen können?
Endlich beugte sich Evan vor, zuckte mit den Schultern und schaffte es, eine tapfere Miene aufzusetzen. »Wahrscheinlich hätte ich doch besser mit dir nach Hause fahren sollen.«
Tara sagte lieber nichts.
»Es tut mir furchtbar leid«, fügte er hinzu.
Tara machte den Mund auf, aber wieder brachte sie kein Wort heraus. Stattdessen strömten, völlig unerwartet, Tränen ihre Wangen hinunter. Sie versuchte nicht, sie zurückzuhalten.
»Ach, Liebling«, sagte er. Dann: »Ich glaube nicht …« Er schüttelte den Kopf und sah sie an. Seine Schultern hoben und senkten sich. »Ich glaube nicht, dass ich ihn umgebracht habe.«
Tara musste sich immer noch mit der bloßen Tatsache herumschlagen, dass Ron Nolan tot war. Evan damit in irgendeiner Form in Zusammenhang zu bringen, war ihr noch nicht möglich; irgendetwas in ihr sperrte sich dagegen, sich mit diesem Gedanken auseinanderzusetzen. Vielmehr kam ihr alles vollkommen unwirklich vor, und dieses Gefühl durchdrang jede Stunde, die sie in wachem Zustand verbrachte, als lebte sie in einem bösen Traum, aus dem ihr nicht aufzuwachen gelang.
»Ich hätte ihn nicht umgebracht«, sagte er und wartete, dass auch sie etwas sagte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. »Könntest du bitte etwas sagen? Irgendwas.«
»Was soll ich denn sagen? Was möchtest du, dass ich sage? Ich bin hier. Das sagt doch etwas, oder nicht?«
»Das hoffe ich.«
»Ich hoffe es auch. Aber sicher bin ich nicht. Bist du verletzt?«
»Nichts, was nicht wieder hinkommt.«
»Wirklich? Wann wird das sein? Und was bedeutet es?«
Er sah sie nur an.
Zehn Wochen vergingen, bis sie sich wiedersahen.
In der Zwischenzeit war Evan des Mordes an Ron Nolan angeklagt worden. Wegen der Khalilmorde wurde dagegen keine Anklage gegen ihn erhoben, weil der District Attorney, Doug Falbrock, entschieden hatte, dass die Beweise, mit denen Evan diese Morde hätten angelastet werden können, für eine Verurteilung nicht ausreichten. Wie das bei Mordfällen fast immer der Fall war, wurde eine Haftaussetzung gegen Kaution abgelehnt.
Tara putzte ihr Klassenzimmer und hing dann die ersten zwei Wochen der Sommerferien in ihrer Wohnung herum. Am vierten Juli fuhr sie zu der Ferienwohnung ihrer Eltern in der Nähe von Homewood am Lake Tahoe hoch, um dort die Ferien zu verbringen, und beschloss mehr oder weniger aus einer Laune des Augenblicks heraus, nicht nach Hause zurückzukehren. Sie ertrug es nicht mehr, dort unten in der Zeitung Tag für Tag etwas über Evan zu lesen. Sie brauchte Abstand zu der ganzen Geschichte - die Interview-Anfragen von Reportern, die räumliche Nähe zum Gefängnis, die Erwartungen
und/oder Vorwürfe von Menschen, die sie nicht kannten. Am Ende blieb sie bis Ende August allein in Homewood, wo sie las, in großer Höhe lief, keinen Tropfen Alkohol trank und in dem kalten See schwamm.
Schließlich wurde es Zeit, zurückzukommen und ihr Klassenzimmer für das neue Schuljahr fertig zu machen. Sie fuhr an einem Donnerstagmorgen zurück, putzte den Staub weg, der sich in ihrer Wohnung angesammelt hatte, fuhr zur Schule und stürzte sich in die gewohnte alljährliche Routine. Und dabei merkte sie irgendwann, dass sie zu einer Entscheidung gekommen war. Nachdem sie kurz nach fünfzehn Uhr Schluss gemacht hatte, fuhr sie direkt zu dem Haus, in dem Evan aufgewachsen war, parkte am Straßenrand und klopfte an die Tür.
Eileen begrüßte sie wie immer - überschwänglich, aufrichtig - mit einem freundlichen Lächeln, einer Umarmung und einem Kuss auf beide Wangen. Sie gingen in die luftige moderne Küche und überbrückten die ersten Minuten mit Smalltalk. Doch sobald ihnen Eileen Eistee eingeschenkt hatte und sie sich an dem Erkertisch gegenübersaßen, von dem man auf das kleine Paradies des Schollerschen Gartens hinaussah, legte Eileen auf ihre typische Art den Kopf auf die Seite und sah Tara fragend an. »Und? Was hat dich heute hierhergeführt?«
»Ich wollte dich fragen, ob du glaubst, dass mich Evan wiedersehen will.«
»Ich glaube, das möchte er mehr als alles andere.«
»Dieses eine Mal war nicht so berauschend, weißt du? Hat er dir davon erzählt?«
»Genauer hat er sich dazu nicht geäußert. Er sagte nur, es wäre nicht ganz einfach gewesen zwischen euch. Aber Vorwürfe hat er dir keine gemacht. Niemand macht dir irgendwelche
Vorwürfe - wir jedenfalls nicht, meine ich -, das weißt du doch, oder?«
Tara
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