Schattenkampf
denn nicht in deinen Kopf?«
»Doch, doch, das verstehe ich durchaus. Du hast völlig Recht. Wirklich. Aber jetzt ist nicht der Moment, um das alles zu klären.« Sie kam ganz nah an ihn heran und stellte sich, die Arme an ihren Seiten, direkt vor ihn. »Bitte, Evan. Ich bitte dich ein letztes Mal. Komme mit zu mir. Egal was, wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Das verspreche ich dir.«
Doch das Glasen in seinen Augen war alles, was ihr antwortete. Leicht schwankend packte er die Rückenlehne seines Stuhls. »Irgendwann reicht es.«
Sie sah ihm ein letztes Mal in die Augen. »Ich flehe dich an. Bitte.«
Falls er sie hörte, war es ihm nicht anzumerken. Er starrte sie ausdruckslos an, eigentlich mehr durch sie hindurch, und schüttelte den Kopf, immer wieder. Dann ging er zum Ausgang.
»Evan, bitte«, rief ihm Tara hinterher. »Warte.«
Er blieb stehen, und kurz glaubte sie erleichtert, sie hätte ihn umgestimmt. Er drehte sich zu ihr um. »Lass mich in Frieden«, sagte er. »Ich weiß, was ich zu tun habe, und ich muss es tun.« Und damit drehte er sich wieder um und wankte zum Ausgang.
Teil Drei
2005
18
Tara war nie so dankbar für ihren Job gewesen.
Das Jahr ging zu Ende, und ihre Schüler gaben ihre Referate ab und brachten für den Tag der offenen Tür am Freitagabend, an dem alle Arbeiten in den Klassenzimmern ausgestellt würden, ihre Projekte über die Antike zum Abschluss. Taras Klasse hatte die Pulte umgestellt, um Platz zu schaffen für die Papiermaché-Pyramiden, die Schaubilder zum Wachstumszyklus entlang des Nils, zu den sanitären Anlagen in den Pharaonenpalästen, den Hieroglyphen, der frühen Form der Hauskatze, der Bibliothek von Alexandria, zu Moses und dem Auszug aus Ägypten.
Deshalb war Tara donnerstags und freitags den ganzen Tag und bis spät in die Nacht hinein damit beschäftigt, sich um die Organisation zu kümmern und bei Panikanfällen ihrer Schüler und oft auch ihrer Eltern einzuschreiten. Sie hatte keine Zeit, um sich mit Evan in Verbindung zu setzen und herauszufinden, was, wenn überhaupt etwas, passiert war, nachdem er am Mittwochabend wutentbrannt aus dem Old Home Traven gestürmt war. Und wenn sie ehrlich war, war sie auch nicht sonderlich erpicht darauf, ihn anzurufen. Sie hielt es für das Beste, ihn erst mal wieder nüchtern werden und über die Peinlichkeit seines Auftritts hinwegkommen zu lassen. Und wenn er dann irgendwann anrief und sich entschuldigte, würden
sie weitersehen. Aber in der Zwischenzeit hatte sie ihren Job und ihre Schüler. Sie glaubte, ein paar Tage Abstand von dem emotionalen Aufruhr und Chaos um Ron und Evan würden allen Beteiligten guttun.
Am Samstag schlief sie fast bis zehn Uhr, dann ging sie zum Pool und schwamm hundert Bahnen. Wieder zurück in ihrer Wohnung, duschte sie, schlüpfte in Shorts und T-Shirt, machte sich einen Salat und schlief hinterher über einem Tennismatch im Fernsehen ein. Als sie aufwachte, benotete sie etwa eine Stunde lang die letzten schriftlichen Arbeiten. Kurz nach vier Uhr war sie gerade mit der letzten fertig geworden, als es klingelte. Sie schaute durch den Spion und sah Eileen Scholler, die mit verweintem Gesicht wartete, dass sie ihr öffnete.
Hinkend, von Abschürfungen und blauen Flecken übersät, kam Evan, an zwanzig andere Männer gekettet, in einem orangefarbenen Gefängnis-Overall in den Besuchsraum. Tara stand in einer vorwiegend aus Frauen bestehenden Gruppe auf der Besucherseite der Plexiglaswand, die den Raum in eine Hälfte für die Häftlinge und eine für deren Angehörige teilte und an deren beiden Seiten sich etwa zwanzig Abteile aneinanderreihten.
Tara musste gegen ihre Tränen ankämpfen, als zwei Wärter Evan von den anderen Männern losketteten. Er wollte zum Gruß die Hand heben, als er sie sah, aber seine Handgelenke waren noch an der Kette um seinen Bauch befestigt. Ein Wärter wies ihm eins der Abteile zu, worauf sich Tara unter zahlreichen Entschuldigungen einen Weg durch die Besuchermenge bahnte, die inzwischen heftig zu drängeln begonnen hatte, und schließlich Evan gegenüber Platz nahm. In der Plexiglaswand,
die sie trennte, war ein Loch, durch das sie sich unterhalten sollten.
Es war Mittwoch, sein vierter Tag in Haft und der erste, an dem seine Verletzungen so weit verheilt waren, dass er ohne Hilfe gehen und Besuch bekommen konnte. Im ersten Moment wusste keiner von beiden, was er sagen sollte. Sie sahen sich in die Augen, dann weg und dann wieder an.
Wie war es
Weitere Kostenlose Bücher