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Schattenkampf

Titel: Schattenkampf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lescroart
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reden werden, dass das dumm ist: mich zu besuchen, sich wieder auf mich einzulassen, egal, auf welcher Ebene. Wenn du das vorhaben solltest.«
    »Ja, das habe ich vor. Und es ist nicht dumm, es ist richtig. Es ist das, was ich tun muss. Es ist, wer ich bin, wer wir sind. Es tut mir nur leid, dass ich so lang gebraucht habe, das zu begreifen.«
    »Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen«, sagte er.
    Aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, da täuschst du dich. Ich muss mich für alles entschuldigen, was uns an den Punkt gebracht hat, an dem wir jetzt stehen. Es tut mir wirklich, wirklich leid, Evan. Glaub mir.«
    Er sah ihr in die Augen. »Mir auch, Tara«, sagte er schließlich. »Mir auch.«

19
    Am Dienstagmorgen der zweiten Septemberwoche des Jahres 2005 sah eine stellvertretende Bezirksstaatsanwältin mit dem grotesken Namen Mary Patricia Whelan-Miille in Saal einundzwanzig des San Mateo County Courthouse in Redwood City auf ihre Armbanduhr. Es war neun Uhr zweiundvierzig. Das hieß, die Verhandlung würde mit einigen Minuten Verspätung beginnen, aber diese Verzögerung störte sie nicht.
    Mary Patricias Studienfreunde hatten ihr den Spitznamen Mills fast schon verpasst, bevor sie zum ersten Mal mit ihrem vollständigen Namen herausgerückt war, und jetzt ließ Mills
mit einer Mischung aus Aufregung und leichter Bangigkeit das Geschehen um sie herum auf sich einwirken. Sie war genau da, wo sie in diesem Moment sein wollte - als Anklägerin in einem Gerichtssaal, in dem gleich der Prozess ihres Lebens beginnen würde, der Prozess, der sich als Wendepunkt ihrer Karriere entpuppen konnte.
    Gewiss, der Fall hatte, wie sich bereits gezeigt hatte, zweifellos seine Tücken. Die Entscheidung ihres Chefs Doug Falbrock, die Anklagen gegen Evan Scholler in den Mordfällen Ibrahim und Shatha Khalil mangels Beweisen fallenzulassen, war schon gleich zu Beginn ein herber Rückschlag für sie gewesen. Und als Richter ausgerechnet Tollson zu ziehen, einen mehrfach dekorierten Vietnam-Veteranen, der durch eine Antipersonenmine einen Fuß verloren hatte, war auch nicht gerade ein Glücksgriff gewesen. Höchstens zwei, drei Jahre vor seiner Pensionierung stehend, hatte sich Tollson als prototypische graue Eminenz von Mills’ Assistentin Felice Brinkley den Beinamen »Seine Grauheit« eingehandelt, der den Nagel auf den Kopf traf.
    Außerhalb des Gerichtssaals, wenn Tollson etwa durch die Flure des Gebäudes humpelte, ging ein fast jungenhafter Enthusiasmus von ihm aus. Er kleidete sich lieber in einem legerem Preppy-Look als mit Anzug und Krawatte, trug blaue Kontaktlinsen, und sein Grecian-Formula-gefärbtes, perfekt gekämmtes, grau meliertes Haar war für einen Mann seines Alters geradezu üppig. Aber auf der Richterbank trug er eine schwarze Robe und eine dicke schwarze Brille, die ein Paar wässriger, tiefschwarzer Hornhäute vergrößerte. Sein Haar befand sich in ständiger Unordnung, als ob er im Richterzimmer nichts anderes täte, als es sich vor lauter Verzweiflung über die menschliche Natur unablässig zu raufen. Fügte man
dem noch die permanent gerunzelte Stirn hinzu, die die dichten Augenbrauen, die aggressiv vorspringende Nase und die zusammengekniffenen Lippen zusätzlich betonte, hatte man mit Seiner Grauheit die eindrucksvolle und vage bedrohliche Urgewalt vor sich, mit der sich Anwälte vor Gericht nur auf eigene Gefahr anlegten.
    Ebenso wenig war Mills sonderlich begeistert über den Strafverteidiger, der jetzt fünf Meter links von ihr hinter seinem Tisch stand. Aaron Washburn, irgendwo nördlich der Siebzig, weißhaarig und mit randloser Brille, trug einen hellbraunen Anzug, der ihm mindestens eine Nummer zu groß war. Sein bügelfreies Hemd war schon einige Male zu oft gewaschen worden, um noch als solches durchzugehen. Die Krawatte mit dem orange-braunen Paisleymuster war acht Zentimeter breit. Sein rotes Gesicht war verschrumpelt wie ein vertrockneter Apfel, in seiner Stimme vereinten sich gleiche Teile Honig und Whiskey. Sein Pferdegebiss war gelb von Alter, Zigarren, starkem Kaffee und Wein.
    Ein einziges Mal, hieß es, hatte Washburn einen Mordprozess verloren, aber niemand konnte sich erinnern, wann. Mills war schon mehrere Male ins Gericht gekommen, nur um ihn einmal live zu erleben, und hielt ihn für hartnäckig, hochintelligent, skrupellos und unberechenbar. Eine gefährliche Mischung.
    Und, was die Sache noch schlimmer machte, er war allseits gut gelitten, der Liebling aller Richter und

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