Schattenkampf
Lücke, ist das richtig?«
»Ja, das ist richtig.«
»Gut.« Mills überlegte ein paar Momente, und dann - einfach so! - veränderte sich ihre Haltung. Ihr Rücken straffte sich merklich, an ihren Mundwinkeln zupfte der Anflug eines grimmigen Lächelns. Offenkundig war sie zu einer Entscheidung gelangt, so, als hätte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um an diesen Punkt zu gelangen, und als wäre jetzt der Augenblick gekommen, sich unwiderruflich auf ihre Strategie festzulegen. »Demnach, Mister Scholler, sitzen Sie jetzt also hier vor mir und vor den Herren und Damen Geschworenen
und erklären, vielleicht haben Sie Mister Nolan getötet, vielleicht aber auch nicht. Sie können sich einfach nicht daran erinnern. Ist das richtig?«
Evan ließ die Frage eine Weile im Raum stehen.
»Mister Scholler«, hakte die Anklägerin nach. »Beantworten Sie diese Frage mit Ja oder Nein. Können Sie mir versichern, dass Sie Mister Nolan nicht getötet haben?«
Evans Blick wanderte zu Washburn, der ihn ausdruckslos erwiderte. Dann wandte sich Evan wieder Mills zu und sah sie an. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er schließlich.
28
Um acht Uhr dreißig am nächsten Morgen saß Mary Patricia Whelan-Miille in ihrem kleinen Büro auf der Ecke ihres Schreibtisches. Hinter ihr, draußen vor dem Fenster, tobte das heftige Regenwetter bereits den zweiten Tag und machte keinerlei Anstalten, nachzulassen. Der dichte kalte Regen peitschte fast waagrecht über den Parkplatz. Vor Mills saß ihre Sekretärin Felice Brinkley mit einem Notizblock auf einem Klappstuhl, den sie an der Tür aufgestellt hatte.
Felice war eine toughe Frau, die kaum Make-up trug und ihr Haar fast vollständig ergrauen ließ. Mills glaubte, sie tat das, um nicht ständig angebaggert zu werden - mit ihrer feinporigen Haut, den hohen Wangenknochen, den sinnlichen Augen und sogar mit dem grauen Haar und ihrer direkten Art war sie eine ausgesprochen attraktive Frau. Dem tat auch ihre kurvenreiche Figur keinen Abbruch.
Sechsunddreißig Jahre alt, war sie die Mutter zweier Jungen und eines Mädchens, alle unter zwölf. Außerdem hielt Mills Felice für eine der cleversten Personen, die sie kannte, und versuchte ständig, sie dazu zu überreden, Jura zu studieren und selbst Anwältin zu werden, aber davon wollte Felice nichts hören - was vielleicht, musste Mills zugeben, ein weiterer Beweis ihrer Intelligenz war. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, erklärte ihr Felice zum fünfzigsten Mal, fuhr sie wesentlich besser: Sie konnte früh zur Arbeit kommen, ihre normalen Arbeitsstunden ableisten und die Mittagspause ausfallen lassen, so dass sie rechtzeitig wieder zu Hause war, wenn die Kinder aus der Schule kamen. Ihr Mann John arbeitete in Wechselschicht bei den Wartungsbetrieben der Stadt, so dass immer einer von ihnen für die Kinder da war. »Das hat für uns absolute Priorität.«
»Aber mit dem höheren Gehalt, das Sie als Anwältin verdienen - und Sie würden wesentlich mehr verdienen -, bräuchte John überhaupt nicht mehr zu arbeiten, wenn Sie bei einer renommierten Kanzlei einsteigen, was Sie garantiert schaffen würden«, argumentierte Mills.
»Schon. Aber ich müsste zwanzig Stunden am Tag arbeiten. Und wie wäre das für ihn, nicht zu arbeiten? Er arbeitet gern. Oder wenn ich mehr verdienen würde als er? Ich halte das für keine guten Voraussetzungen für eine glückliche Ehe.«
»Aber dass er mehr Geld verdient als Sie, ist für Sie okay?«
»Tut er ja gar nicht.«
»Aber wenn es so wäre, wäre es okay?«
»Klar. Aber es wäre auch okay, wenn ich mehr verdienen würde als er, wenn es sich eben so ergibt. Aber warum sollte
ich mich nur wegen des Gelds um einen neuen Job bemühen, der mir weniger Spaß macht und mir keine Zeit für die Kinder ließe?«
»Weil einem nur Geld Sicherheit gibt, Felice.« Sie hob mahnend den Finger. »Und, auch wenn ich natürlich weiß, dass Sie da keine Angst zu haben brauchen: Was ist zum Beispiel, wenn er Sie verlässt?«
»Wer, John?« Felice lachte. »John wird mich nie verlassen.«
»Wie wollen Sie da so sicher sein? Er ist schließlich ein Mann.«
Felice kannte das bereits zur Genüge und fand es eher komisch. Ihre arme, traurige, gestresste Chefin, die endlos Überstunden machte und noch nie eine dauerhafte Beziehung gehabt hatte, versuchte ihr Ratschläge zu geben, wie sie ein sichereres und glücklicheres Leben führen könnte - das entbehrte nicht einer gewissen Komik, allerdings mit einem
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