Schattenkampf
hier zurück.«
»Du fliegst nach Hause. Warum?«
Er winkte die Frage beiseite. »Nur irgendwelchen Logistik-Quatsch für Jack. Büroprobleme. Lass dich gelegentlich blicken und sieh nach, dass die Mitarbeiter bei der Stange bleiben. Wenn wir einen von diesen beiden neuen Aufträgen kriegen, werden wir zu Hause ein neues Büro brauchen.« Er zuckte mit den Schultern. »Organisationskram. Jedenfalls
werde ich genug Zeit haben, um kurz mal nach Redwood City runterzufahren. Die Lage peilen, was mit deiner Zuckerschnecke los ist.«
»Ex-Zuckerschnecke.«
»Was auch immer.« Er streckte die Hand aus und drehte das Kuvert herum, schaute darauf und las. »Tara Wheatley. Hübscher Name.«
»Hübsches Mädchen«, sagte Evan.
»Glaube ich dir gern.«
»Und es macht dir wirklich nichts aus, kurz runterzufahren und ihr den Brief zu geben?«
Nolan breitete die Arme aus. »Jetzt hör mal! Mann. Ich bitte dich. Vergiss es. Ist bereits erledigt.«
4
Ron Nolan saß auf der obersten Stufe der schattigen Außentreppe, die zum ersten Stock der Wohnanlage Edgewood Apartments in Redwood City, Kalifornien, hinaufführte. Der Schatten war einer Reihe riesiger Magnolienbäume geschuldet, die am Eingang der Wohnanlage Wache standen.
Vor einer Stunde, gegen siebzehn Uhr, war er die Treppe hinaufgestiegen und hatte an der Tür von 2C geklingelt, aber niemand war an die Tür gekommen. Er hätte vorher anrufen und einen Termin abmachen können - Tara Wheatley stand im Telefonbuch -, aber er hielt es für besser, unangemeldet aufzukreuzen und den Brief persönlich zu übergeben. Er wollte ihr nicht die Möglichkeit lassen, zu sagen, sie wolle ihn nicht sehen und es sei ihr egal, ob sie noch mal einen Brief
von Evan bekäme. Das hätte die Sache verkompliziert. Es war besser, einfach aufzutauchen und seinen Auftrag zu erledigen.
Er hatte es nicht eilig. Er hatte sich vorgenommen, ein, zwei Stunden zu warten, und wenn sie bis dann nicht nach Hause käme, würde er entweder später am Abend nochmal herkommen oder am nächsten Tag. Evan hatte ihm erzählt, dass sie in dieser Phase des Sommers die meiste Zeit wahrscheinlich in ihrem Klassenzimmer verbrachte, um sich auf das in Kürze beginnende Schuljahr vorzubereiten. Tara unterrichtete die sechste Klasse der St. Charles School, einer katholischen Schule in der nächsten Stadt. Evan hatte gemeint, dass sie keinen neuen Freund hätte, oder zumindest noch nicht, und dass sie deshalb an den meisten Abenden zur Essenszeit zu Hause sein müsste, wenn ihr nichts fehlte - wenn sie nicht verletzt oder krank war, oder tot.
Also ließ sich Ron Nolan auf die harte Steinstufe nieder und wartete. Das Wetter war optimal, der nachmittägliche Blütenduft der Gardenienhecke überdeckte die Autoabgase der stark befahrenen Straße, vom Rasen drang der Geruch frisch gemähten Grases herauf, vom Swimmingpool, von dem eine Ecke zu sehen war, ein Hauch von Chlor. Wenn er die Augen schloss, konnte sich Nolan sogar kurz einbilden, wieder auf der Highschool zu sein. Unten beim Pool lachten und planschten Menschen, und die Geräusche taten sich mit der Milde der Luft zusammen, um ihn einzulullen und von dem fortzutragen, was seine reale Welt aus Staub und Pflicht, Gefahr und Tod geworden war.
Ganz das dressierte Tier, das er war, war er sofort wieder voll in der Gegenwart, als sein Bewusstsein eine Vibration der Treppenstufen registrierte. Er blickte auf eine Frau in
einem einfachen blauen Bikini hinab, die auf der dritten Stufe stehen geblieben war und, von ihm abgewandt, ein paar Worte mit Freunden wechselte, die offensichtlich ebenfalls gerade vom Pool kamen. Aus dem Farbton ihres nassen Haars schloss er, dass es blond war, wenn es trocknete. Ein dicker Schopf fiel ein Stück über das Oberteil ihren Rücken hinab. Sie hatte einen Finger um ihr Badetuch gehakt und es achtlos über die Schulter geworfen. Nolans Blick wanderte die gesamte Länge ihres Körpers hinunter, und er sah nichts, was ihm nicht gefiel. Ihre Haut hatte die Farbe von Honig.
Er veränderte seine Haltung auf der Treppe, um sie besser sehen zu können. In diesem Moment drehte sie sich um und schaute zu ihm hoch. Sie ertappte ihn bei seinem Vorhaben und bedachte ihn mit einem kurzen komplizenhaften Lächeln, das weder verlegen noch einladend war, um sich dann rasch wieder dem Abschied von ihren Freunden zuzuwenden. Einer von ihnen ließ eine kurze Bemerkung fallen, die Nolan nicht verstand, aber die Spitze ihres sorglosen Lachens drang zu ihm
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