Schattenkampf
hoch. Einen solchen Laut hatte er schon einige Zeit nicht mehr gehört.
Dann kam sie die Treppe herauf auf ihn zu.
Nolan stand auf. Er trug schwarze Schuhe, eine gebügelte Khakihose und ein Tarnhemd. Er hielt Evans Brief in der Hand. Auf halbem Weg blieb sie plötzlich stehen, und schlagartig war jede Spur von guter Laune aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihr schossen Tränen in die Augen, und sie hielt die Hand an den Mund. »O mein Gott«, stieß sie hervor. »Doch nicht Evan? Bitte sagen Sie mir, nicht Evan.«
Als er merkte, was sie dachte - dass er von der Army geschickt wurde, um ihr die Nachricht von Evans Tod im Irak zu überbringen -, streckte Nolan beruhigend die Hand aus und
sagte: »Evan geht es gut. Ihm fehlt nichts. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen unnötig einen Schreck eingejagt habe. Sie müssen Tara sein.«
Sie nickte, immer noch außer Fassung. »Ja. Aber … sind Sie wegen Evan hier?«
In diesem Moment rief einer ihrer Freunde von unten herauf. »Tara? Alles okay?«
Das verschaffte ihr etwas Zeit, um sich zu sammeln. Sie drehte sich um und winkte. »Alles klar. Es ist nichts.« Als sie sich wieder Nolan zuwandte, hatte sich ihre Stimme gefestigt. »Wer sind Sie? Was wollen Sie hier? Ihretwegen dachte ich, Evan wäre gefallen.«
»Das tut mir leid. Mein Name ist Ron Nolan. Ich bin ein Freund Evans aus dem Irak. Ich hätte wissen sollen, welche Reaktionen ich in Ihnen auslöse, wenn ich hier so auf Sie warte. Entschuldigen Sie bitte.«
»Na schön, es tut Ihnen also leid.« Sie deutete auf das Kuvert in seiner Hand. »Und was ist das?«
»Es ist ein Brief, den mich Evan persönlich zu übergeben gebeten hat. Er macht sich Ihretwegen Sorgen.«
»Warum macht er sich Sorgen um mich. Er ist derjenige, der im Kriegsgebiet ist.«
»Na ja, er hat nicht einen einzigen Brief von Ihnen erhalten.«
»Ganz richtig. Weil ich nämlich keinen geschrieben habe. Wir haben uns getrennt. Hat er Ihnen das etwa nicht erzählt? Was erwartet er, dass ich Ihnen sage?«
»Das weiß ich nicht.« Nolan hielt ihr den Brief hin. »Ich bin hier nur der Bote. Meine Aufgabe ist, Ihnen diesen letzten Brief zu geben und Evan dann zu sagen, dass es Ihnen gutgeht.«
»Mir fehlt nichts.«
»Ja, das sehe ich. Wollen Sie ihn nicht nehmen?«
Sie rührte sich nicht.
Er wartete mit dem Brief in der ausgestreckten Hand und sah sie, hingerissen von ihrem Gesicht, an. Ihr Haar war nach hinten gestrichen; es enthüllte eine klare, breite Stirn. Sie kam gerade vom Schwimmen, weshalb kein Make-up die Landschaft aus hellen Sommersprossen verdeckte, die sich unter ihren weit stehenden gletscherblauen Augen über schön geformte Wangenknochen breiteten. Auch ohne Lippenstift wirkte ihr Mund leicht gerötet.
Nolan zwang sich wegzuschauen. Es kostete ihn einige Überwindung.
Tara blickte auf den Umschlag hinab. »Glaubt er, ich hätte seine anderen Briefe nicht bekommen?« Ihre Schultern sackten nach unten, als etwas in ihr nachzugeben schien. »Ich will mich nicht nochmal auf ihn einlassen. Begreift er das denn nicht? Es wird unmöglich klappen.«
»Weil Sie wegen des Kriegs unterschiedlicher Meinung sind?«
»Nicht nur deswegen.«
»Nicht?«
»Nein. Warum fragen Sie?«
»Weil er zu glauben scheint, dass es nur deswegen ist. Wegen des Kriegs, meine ich. Allerdings habe ich ihm gesagt, und das Gleiche sage ich jetzt Ihnen: Menschen, die sich lieben, trennen sich wegen so was nicht.«
»Ob Sie einer Meinung sind hinsichtlich der Frage, ob sich die Probleme der Welt lösen lassen, indem man Menschen tötet, oder nicht? O doch, das tun sie sehr wohl, glaube ich.«
Keiner von beiden rührte sich.
»Und ich habe nicht gesagt, dass ich ihn geliebt habe«, fügte sie hinzu.
Nolan legte den Kopf auf die Seite. »Als Sie dachten, ich wäre hier, um Ihnen mitzuteilen, dass er tot ist, schien es aber, als läge Ihnen mehr als nur ein bisschen an ihm.«
»Es kann einem auch etwas an jemandem liegen, ohne dass man ihn entweder liebt oder nicht möchte, dass er stirbt. Halten Sie das nicht für möglich?«
»Doch, schon.« Die Frau war schön, aber Nolan fand, eine kleine Einstellungskorrektur könnte ihr nicht schaden. »Möglich ist alles«, sagte er. »So ist es zum Beispiel auch möglich, dass Sie vielleicht eines Tages Ihre Einstellung gegenüber den Leuten ändern, die Ihr Leben riskieren, um unsere Freiheit zu gewährleisten.«
Damit hatte er eindeutig einen wunden Punkt getroffen. Ihr ganzes Gesicht verdunkelte sich. »Das
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