Schattenkampf
Schlitten zogen, waren Rentiere. Das war das Wort.
Er begann zu lachen. Zuerst war es nur ein leises Glucksen, das aus seiner Kehle kam, aber es schwoll rasch zu etwas an, das seiner Kontrolle entzogen war, zu einem Krampf, der ihn so heftig schüttelte, dass er keine Luft mehr bekam. Seine Schultern hoben und hoben sich bei dem Versuch, Luft in seine Lungen zu bekommen, und dann weinte er plötzlich wieder, aber diesmal richtig. Sein Körper zitterte vom Herauslassen von so viel Angestautem, als er erschöpft auf die Kissen zurücksank, und die Tränen strömten jetzt stetig und ungehindert sein Gesicht hinab.
Stephan wischte ihm mit einem warmen Handtuch das Gesicht ab. »Was ist passiert?«
»Nichts? Wieso?«
»Dein Gesicht ist ganz nass. Alles in Ordnung?«
»Ich war furchtbar deprimiert. Dann die Rentiere.«
»Ach so.« Stephan, der vermutlich ein besseres Gespür für absurde Dialoge hatte als die meisten Menschen, nickte, als verstünde er die Bedeutung dessen, was Evan gerade gesagt hatte. »Aber jetzt ist wieder alles okay?«
»Klar, alles bestens.«
»Wirklich?«
»Doch, doch, ja.«
»Ich habe nämlich in zehn Minuten eine Personalversammlung,
aber wenn du mich hier brauchst, schwänze ich. Und sei es nur, um miteinander zu quatschen.«
»Nein, nein, schon okay. Wirklich, Stephan. Alles okay.«
Nolan dachte, dass das der Grund war, warum man nicht zu viel Gedanken daran verschwenden sollte, was schiefgehen konnte. Man blieb einfach ständig in Bewegung, behielt sein Ziel im Auge, schlug sich die nörgelnden Zweifel aus dem Kopf.
Im Walter Reed herrschte keinesfalls das blanke Chaos, aber es krankte eindeutig an Personalmangel und Arbeitsüberlastung. Rein theoretisch hätte vielleicht jemand Nachforschungen über den Patienten anstellen sollen, den er hatte besuchen wollen, und jemand hätte sich seinen Ausweis zeigen lassen sollen - das hatte er fast gehofft, denn er hatte einen kanadischen Pass einstecken gehabt, der ihn als Trevor Lennon auswies -, aber das war nicht der Fall gewesen. Abgesehen von diesen Versäumnissen war die Überlastung so massiv geworden, dass es in vielen Bereichen keine Videoüberwachung gab, insbesondere in den oberen Etagen des Gebäudes, in dem die pädiatrische Intensivstation untergebracht war, die für die Behandlung genesender SHT-Patienten umfunktioniert worden war.
Er war unsichtbar.
Es bestand kein Grund zur Ungeduld. Der Bau hatte sechs Etagen, und die Stockwerke drei und vier hatte er bereits abgehakt, indem er zielstrebig, als wüsste er genau, wohin er musste, die Flure hinunter geschritten war. Er hatte auf beiden Stockwerken in jedem Zimmer nach Evan gesucht. Wenn er auf dem Flur von Zimmer zu Zimmer ging, nickte er den Patienten, die auf ihren Bahren lagen oder mit ihren
Gehhilfen unterwegs waren, freundlich zu und grüßte alle, die nach Arzt, Schwester oder sonstigem Personal aussahen, mit einem kernigen Hallo. Sogar einen Namen hatte er parat, sollte ihn jemand fragen, wen er besuchen wolle, obwohl er nicht glaubte, dass sich das als nötig erweisen würde.
Als er im fünften Stock die Tür des dritten Zimmers öffnete, sah er Evan in dem Bett direkt am Fenster liegen. Die drei anderen Betten waren leer. Er betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, sondierte kurz die Lage und kam sofort zu einer Entscheidung. Das Beste wäre, ihn einfach aus dem Fenster zu werfen.
Typ mit schwerer Hirnverletzung, massive Depressionen, ganz allein am Fenster. Eindeutig Selbstmord.
»Mann.«
Aus irgendeinem Grund war Evan zum Lachen zumute. Unangebrachtes Lachen, nannte es Stephan, ein normales Symptom bei seiner Art von Hirnverletzung - aber diesmal konnte er den Impuls unterdrücken. »Ich kenne dich«, sagte er nach einer Weile.
»Klar kennst du mich. Ich bin Ron Nolan.«
Evan nickte. »Richtig. Ron. Wie geht’s, Ron?«
»Kann nicht klagen. Die Frage ist eher, wie geht’s dir?«
»Ich kriege ständig zu hören, dass ich ein wandelndes Wunder bin, obwohl ich mich ganz und gar nicht so fühle. Was machst du denn hier?«
»Ich hatte geschäftlich hier zu tun, und als ich hörte, dass du hier liegst, dachte ich, ich schaue mal vorbei - sehen, wie’s dir so geht.«
»Wo ist hier?«, fragte Evan.
»Washington DC, oder zumindest ganz in der Nähe. Sagen sie dir denn nicht, wo du bist?«
»Doch, doch, ich glaube schon.« Evan lächelte. »Ich kann mir nur noch nicht alles merken.«
»Augenblick mal.« Nolan ging um das Bett herum ans
Weitere Kostenlose Bücher