Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
einfinden, Freunde und Bekannte, sie würden ihre Ferien unterbrechen und selbst von weit weg herkommen, um Abschied von dem geliebten, ersehnten Jungen zu nehmen, der nur acht Jahre alt geworden war. Die Freunde würden zusammenströmen, um bei Sanders letzter Reise dabei zu sein und Jon und Ellen den Weg zurück ins Leben zu erleichtern.
Sie musste eine Todesanzeige aufgeben, ging ihr nun auf. Sie musste etwas unternehmen, ehe die Leere sie ganz aushöhlte. Die Kleider vom Vortag lagen auf einem Haufen vor der Tür, und sie zog sich an, so schnell das mit der zerschnittenen Hand ging. Ihr eigener Laptop war unbrauchbar, seit Sander ihn in der Toskana mit ins Schwimmbecken genommen hatte, aber Jon hatte ein MacBook. Er wusste nicht, dass sie es ab und zu auslieh, aber er war ja vor drei nie zu Hause, und sie hatte es noch nicht geschafft, sich einen neuen Computer zu kaufen.
Ellen wollte eine Todesanzeige verfassen und sich an die dunkel gekleideten Männer wenden, die diskret eine Broschüre auf die Kommode in der Diele gelegt hatten, als sie Sander holen gekommen waren. Eine schöne Todesanzeige wollte sie gestalten, mit einer Taube oben oder einem Engel.
In der Diele fiel ihr ein, dass sie ein Datum brauchten, ehe sie die Anzeige aufgeben konnten. Ein Datum für die Beerdigung, oder genauer gesagt, für die Beisetzung. Ellen hatte nie begreifen können, wie man jemanden mit unversehrtem Körper unter sechs Fuß Erde begraben und wehrlos den Angriffen von Würmern und Insekten preisgeben konnte. Sander sollte eingeäschert werden, in einem weißen Sarg, bedeckt mit Blumen, die Ellen selbst zusammenstellen wollte.
Das Bestattungsunternehmen würde da sicher helfen können. Sie konnten gegenüber der Polizei mit einer anderen Autorität auftreten als Ellen selbst.
Aber sie konnte die Anzeige ja schon einmal entwerfen.
Jon wollte nicht, dass sie sein Arbeitszimmer betrat. Für Sander war es völlig tabu gewesen, und sogar die polnische Putzfrau schien sich unwohl zu fühlen, wenn sie dort jeden Freitag in aller Eile staubsaugte. Das Arbeitszimmer war Jons Refugium, und Ellen hatte insgeheim den Verdacht, dass er sich dort ab und zu einschloss, um in Ruhe fernzusehen oder ganz einfach auf dem weichen Sofa an der Querwand ein Nickerchen zu machen.
Die Tür war jedenfalls nicht abgeschlossen.
Sie öffnete sie vorsichtig, als ob sie nicht ganz sicher wissen könnte, ob nicht doch jemand dort war. Im Zimmer roch es nach Mann, nach Rasierwasser und ein wenig nach Zigarre. Auf dem großen Schreibtisch stand der iMac, umgeben von Ordnern und Ringbüchern. Das Sofa war von weiteren Unterlagen bedeckt. Auf der Fensterbank stand ein Bild von Ellen, von früher, als sie noch Krogh geheißen hatte, als sie Zahnärztin gewesen war, zwölf Kilo mehr gewogen und die ganze Zeit gelacht hatte. Der Laptop war nirgends zu sehen.
Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, danach zu suchen, aber Jon hatte ein Elefantengedächtnis, und wenn sie etwas berührte, würde er es später sofort bemerken. Sie schloss die Tür so langsam, wie sie sie geöffnet hatte.
Als sie sich umdrehte, versuchte sie, nicht zu Sanders Zimmer hinüberzuschauen. Stattdessen fiel ihr Blick auf die Kommode in der Diele. Eigentlich war es ein großer altmodischer Sekretär, ein wertvolles Erbstück aus der Familie Mohr. Auf jeder Seite der mit Leder überzogenen Schreibplatte, die jetzt nur zum Sortieren der eingegangenen Post benutzt wurde, gab es fünf übereinander angebrachte Schubladen. Der untere Teil des Möbelstückes enthielt drei Schrankfächer, und die Türen wurden mit reich verzierten Messinggriffen in der Mitte geöffnet. Die eine Tür war nur angelehnt, wie Ellen jetzt sah. Das Holz hatte sich ein wenig verzogen, sodass sie, vor allem bei feuchtem Wetter, schwer zu schließen war. Ellen bückte sich, um die Tür zuzudrücken, und dabei sah sie etwas silbern aufleuchten.
Dort lag das MacBook, wie so oft.
Sie hatte es vergessen. Es war, als ob Teile ihres Gehirns ausgeschaltet wären, sie konnte sich an die alltäglichsten Dinge nicht erinnern.
Sie nahm den Laptop heraus und ging in die Küche. Der vage Duft von frischem Brot gab ihr ein Gefühl im Zwerchfell, das an Hunger erinnerte. Sie war so erschöpft, dass die Vorstellung, etwas zu essen, abstoßend wirkte, und so trank sie stattdessen ein großes Glas Wasser.
Dann schaltete sie den Computer ein. Automatisch wurde Aftenposten.no aufgerufen. Der Massenmörder lächelte sie
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