Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Backofen auf sechzig Grad und stellte das MacBook auf den obersten Rost.
Sie musste auch im iMac nachsehen.
Lautlos ging sie in Jons Arbeitszimmer und schaltete den Rechner ein. Der verlangte ein Passwort. Sie schloss die Augen, versuchte, sich zu konzentrieren. Jon hatte kürzlich darüber geklagt, dass alle Welt immer so einfache Passwörter nahm, könnten sie die üblichen Namen von Hunden, Kindern und Ehefrauen nicht ein wenig variieren? Sie rückwärts schreiben, zum Beispiel.
REDNAS, schrieb sie. Das kleine Symbol mitten auf dem Bildschirm schüttelte abweisend den Kopf.
NELLE, versuchte sie.
Auch das war falsch.
NOJNELLEREDNAS, versuchte sie verzweifelt, die Familie, hierarchisch geordnet und rückwärts geschrieben, und drückte auf die Enter-Taste.
Die Maschine hieß sie herzlich willkommen. Sie atmete flach und rasch, während sie sich die Lesezeichen ansah. Sie öffnete den Ordner für Bilder, die Dokumente.
Nichts von Interesse. Keine grauenhaften Bilder, keine Chatseiten, auf denen Aktivitäten beschrieben wurden, die jenseits ihres Vorstellungsvermögens lagen. Sie schluchzte vor Erleichterung auf, loggte sich aus und versuchte, die Maus genauso hinzulegen, wie sie sie vorgefunden hatte.
Als sie die Tür hinter sich zuzog, empfand sie nichts.
Zwanzig Minuten lang saß sie dann am Küchentisch und wartete, während ein seltsamer staubiger Geruch sich mit dem beißenden Gestank des Salmiakgeistes vermischte. Die Wunde im Daumen hatte wieder durch den Verband geblutet, aber sie verspürte keinen Schmerz. Ellen war allein in dem großen Haus, ohne irgendein Gefühl, ohne einen anderen Gedanken als den einen, alles überschattenden: Jon und sie waren auf eine Weise aneinander gebunden, die sonst niemand verstehen konnte.
Sie musste auf Jon aufpassen, so wie er immer auf sie aufpasste.
Dass er sich gern pornografische Darstellungen kleiner Kinder ansah, musste sie deshalb so schnell wie möglich vergessen. Die Bilder verschwanden auch schon aus ihrem Bewusstsein. Sie versanken langsam in einem segensreichen Nebel, den sie herbeirufen konnte, wann immer sie ihn brauchte: So hatte sie in den vergangenen Jahren alles verdrängt, mit dem sie nicht leben konnte.
Die Küchenuhr am Ofen heulte auf.
Das MacBook war gar.
Das Kommunikationshaus Mohr und Westberg war erst kürzlich in neue Räume auf Tjuvholmen gezogen. Für die fünf Partner und zweiundzwanzig Angestellten war das alte Büro hinter dem Schloss längst zu klein gewesen. Und der Umzug aus einem alten, dunklen und ehrwürdigen Stadthaus in ein neues Gebäude aus Stahl und Beton schien die Firma nicht nur äußerlich in eine neue Zeit versetzt zu haben. In den sechzehn Jahren ihres Bestehens war sie stetig gewachsen und gehörte jetzt zu den größten in Norwegen. Nach dem Umzug vor nur einem halben Jahr war die Zahl ihrer Kunden dann explodiert. Das hing natürlich nicht nur mit den neuen hellen Räumlichkeiten am Meer zusammen. Innerhalb kurzer Zeit hatte Mohr und Westberg drei ehemalige Minister, einen Staranwalt, einen seit zwanzig Jahren prominenten Fernsehmoderator und einen Musikproduzenten, der zweiunddreißig Staffeln von Norwegen sucht den Superstar vorweisen konnte, als Kunden gewonnen. Die hoch profilierten neuen Mitarbeiter zogen sofort neue Kundschaft an, und bei der letzten Vorstandssitzung war beschlossen worden, die Zeit sei mehr als reif für einen Namenswechsel. Mohr und Westberg klang nach einer bejahrten Steuerberaterfirma, und der Name gab auch nicht mehr die wirklichen Besitzverhältnisse wieder. Vom 1. Januar 2012 an sollte sich das gesamte grafische Profil ändern, und der Name der Gesellschaft sollte CommuniCare lauten.
Jon Mohr saß in seinem großen neuen Büro und starrte aus zusammengekniffenen Augen zum Leuchtturm Dyna Fyr hinüber. Die Nachmittagssonne schickte Lichtkaskaden über den Fjord, der aussah wie ein Stück zerknitterter Alufolie, die irgendwer mit großer Mühe wieder glatt gepresst hat. Draußen wimmelte es von kleinen Booten, und die Fähre nach Dänemark schien sich fast ihrer eigenen Größe zu schämen, während sie langsam dem weiteren Fahrwasser folgte.
»Ich begreife einfach nicht, worum es hier geht«, sagte Jon, ohne Joachim anzusehen, der auf einem dunklen Sofa saß und eine Apfelsine von einer Hand in die andere rollen ließ. »Jetzt sind wir den ganzen Ordner der Klevstrand-Shatter-Fusion durchgegangen. Und alle Unterlagen über die Transportvereinbarung mit HeliCore. Alle
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