Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
eine Gebäckschale an, die fast schon leer war.
Die Frau, die ihm gegenüber auf einem Sofa saß, hieß Haldis Grande und war seit zwei Jahren Sanders Klassenlehrerin gewesen.
»Nein«, sagte sie energisch. »Das habe ich nicht gesagt.«
Es war kurz nach fünf, und das Nachmittagslicht flutete in das kleine Haus am Waldrand im Norden von Oslo. Hinter den leichten Vorhängen war der Himmel noch immer fast weiß. Dennoch hatte Haldis Grande eine Kerze angezündet. Sie steckte in einem runden Holzleuchter, der mit Marienkäfern bemalt war. Die Flamme war in dem starken Tageslicht kaum zu sehen.
Es war großmütterlich gemütlich in dem kleinen Wohnzimmer. Stickereien und schlichte Gemälde an den Wänden, eine unglaubliche Menge Nippes und Figürchen, von Kindern gebastelt und Mitbringsel von Reisen, vor allem durch Skandinavien. Ein großes rotes Dalapferd stand bei der Küchentür. Auf dem Pferderücken balancierte ein Mumin, der sich an eine verschossene finnische Flagge klammerte. Die Vorhänge vor den halb offenen Sprossenfenstern waren hell und dünn und tanzten in dem leichten Luftzug. Auf den Fensterbänken und auf kleinen Beistelltischen drängten sich Topfblumen.
Die Einrichtung wies auf eine viel ältere Frau hin, fand Henrik Holme. Sie erinnerte ihn an seine Urgroßmutter, die mit zweiundneunzig Jahren noch immer zu Hause wohnte. Haldis Grande war dreiundsechzig. Obwohl sie arges Übergewicht hatte, oder vielleicht gerade deshalb, sah sie jünger aus. Ihre Kleidung war bunt und munter. Sie und ihr Zuhause wirkten sympathisch, passten aber auf eine seltsame Weise nicht ganz zueinander.
»Nein«, wiederholte sie vorwurfsvoll. »Das habe ich so nicht gesagt.«
Henrik Holme lächelte ein wenig verlegen.
Sie hob die Kanne und goss ihnen beiden Tee ein, langsam, als brauche sie ein wenig Zeit, um wieder zu der geduldigen, beredten Frau zu werden, die sie seit Henrik Holmes Ankunft gewesen war.
»Sander ist etwas ganz Besonderes«, sagte sie endlich. »Oder das war er. Ich kann mich noch nicht ganz daran gewöhnen, dass er nicht mehr da ist. Aber wissen Sie, jedes Kind ist einzigartig. In einer Grundschulklasse gibt es extrovertierte Kinder und Kinder, die kaum je den Mund aufmachen. Einige haben Hummeln im Hintern und können überhaupt nicht still sitzen, schon gar nicht eine ganze Schulstunde. Andere sitzen mäuschenstill da und tun alles, was ihnen aufgetragen wird. Und jetzt haben wir sie ja sogar in allen Farben.«
Die Lachgrübchen in den runden Wangen waren so tief, dass sie nie ganz verschwanden. Jetzt bildeten sich auf beiden Wangen tiefe Mulden.
»Allein der Wuchs, Herr Holme, allein der Wuchs!«
Sie hob die Tasse und spreizte dabei den molligen kleinen Finger ab, nippte an ihrem Tee und deutete ein Kopfschütteln an.
»Ich glaube, das größte Kind in der 2 a ist an die zwanzig Zentimeter größer als das kleinste«, sagte sie.
»Und Sander?«, fragte Henrik Holme zögernd und blätterte nervös in dem Notizblock, den er sich aufs Knie gelegt hatte.
Bis jetzt hatte er kein einziges Wort aufgeschrieben. Als Haldis Grande erklärt hatte, sie könne wirklich erst in der nächsten Woche auf die Wache kommen, hatte er gefragt, ob er sie besuchen dürfe. Sie habe eine kranke Katze, hatte sie am Telefon gesagt, frisch operiert und in ziemlich elendem Zustand, und sie könne das Tier nicht für mehrere Stunden allein lassen. Die Dame war sehr energisch. Henrik Holme hatte sich geschlagen gegeben und sich in die U-Bahn nach Grorud gesetzt. In der U-Bahn war er sich wie ein Idiot vorgekommen, allein, ohne die vorschriftsmäßige Mütze und mit einem kleinen roten Rucksack.
Die norwegische Polizei suchte die Leute nicht auf diese Weise auf. In amerikanischen und britischen Fernsehserien waren die Ermittler dauernd unterwegs, aber so war es in Norwegen eben nicht. Zeugen wurden einbestellt, das wusste Henrik Holme, aber er konnte nicht warten. Die Polizeijuristin hatte ihm grünes Licht für alle Vernehmungen gegeben, die er vorgeschlagen hatte, und es konnte ihr ja egal sein, wo er die durchführte. Außerdem schmeckte der Tee gut, und die Plätzchen mit dem Perlzucker waren himmlisch. Henrik Holme hatte schon fünf Stück verputzt und überlegte, ob es unhöflich wäre, auch noch das letzte aus der Schale zu nehmen.
»Sander war ein lieber Junge«, sagte Haldis Grande. »Ein lieber, witziger Junge. Das Lernen fiel ihm ein bisschen schwer, aber ich bin ganz sicher, dass er nicht dumm
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