Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
kommen doch von hier. Ursprünglich, meine ich.«
»Ach so.«
»Ich habe über Sie gelesen, Inger Johanne. In den Zeitungen und auch ein wenig im Netz. Torbjørn und ich meinen, es sei das Beste, wenn wir einmal mit Ihnen sprechen. Wir möchten nur ungern ...«
Wieder dieses Rauschen. Es klang wie starker Wind.
»Ich bin auf der Hütte«, rief Agnes jetzt am anderen Ende der Leitung. »Einen Moment!«
Inger Johanne schob sich die Hand unter den Gürtel. Ihre Haut spannte. Sie öffnete den obersten Knopf und ließ ihrem Bauch mehr Raum. Es musste länger als drei Wochen her sein. Zu Mittsommer, ging ihr jetzt auf. Sie waren in Asker bei einem von Yngvars Kollegen gewesen und hatten in einem Kellerraum übernachten müssen, weil kein Taxi zu bekommen war.
»Hallo«, sagte Agnes. »Die Verbindung hier oben ist schlecht, aber so müsste es gehen. Jetzt stehe ich am Rand einer Felskuppe, hören Sie mich?«
»Ja.«
»Wie wäre es mit Montag?«
»Montag? Ja. Das müsste gehen. Meinen Sie vormittags oder ...«
»Wie Sie wollen. Da das, worüber ich sprechen möchte, sehr ...«
Wieder riss ein Windstoß den halben Satz mit.
»Hallo«, sagte Inger Johanne. »Können Sie das noch mal wiederholen?«
»Ich möchte über etwas sehr Vertrauliches mit Ihnen reden. Es wäre deshalb schön, wenn wir uns nicht in einem Café treffen müssten. Darf ich so frech sein und mich bei Ihnen einladen? Oder im Büro natürlich, falls Sie keinen Urlaub haben? Oder ... meine Güte, sind Sie überhaupt in Norwegen?«
»Das ist in Ordnung. Ich habe Urlaub, aber ich bin in Oslo. Kommen Sie einfach her. Um zwölf, ist das okay?«
»Zwölf ist gut. Tausend Dank.«
»Darf ich fragen, worum es geht?«
»Es geht um Sander«, sagte die Anruferin. »Wir haben erst vor drei Tagen von seinem Tod erfahren. Jon hat angerufen.«
Inger Johanne glaubte, rasche, unregelmäßige Schritte zu hören, als suche Agnes Krogh in ziemlich unwegsamem Gelände nach einer Stelle mit weniger Wind. Sie atmete schwer, und Inger Johanne hielt das Telefon einen Zentimeter vom Ohr weg, um dem unangenehmen Rauschen zu entgehen.
»Können Sie mir noch mehr sagen?«, fragte sie, als es endlich still wurde.
»Nicht viel«, sagte Agnes Krogh. »Aber ich glaube, dass Sander von seinem Vater misshandelt wurde. Nein, ich glaube es nicht, ich bin mir da ziemlich sicher.«
»Eins muss ich Ihnen immerhin lassen«, sagte Polizeijuristin Tove Byfjord. »Sie sind wirklich hartnäckig. Keine schlechte Eigenschaft für einen Polizisten.«
Es ging auf Mitternacht zu. Der lang gezogene, geschwungene Koloss im Grønlandsleiret 44, wo die Osloer Polizei untergebracht war, schlief noch nicht. Aus den Bürofenstern fiel mattes Licht, und Vorübergehende konnten Leute kommen und gehen sehen, wie an einem geschäftigen Vormittag. In seinem geliehenen, fast leeren Büro saß Henrik Holme und spürte, wie das Mobiltelefon auf seinem Oberschenkel vibrierte. Er schob die Hand in die Tasche, um es so diskret wie möglich auszuschalten.
»Stellen Sie das Ding ab«, sagte die Polizeijuristin. »Ich rede mit Ihnen.«
Er gehorchte und ließ das Telefon in seinen Rucksack fallen.
»Sie haben viel geschafft«, sagte sie und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Aber Sie haben das meiste falsch gemacht. Das Problem ist, dass Sie zu viele Krimiserien sehen. Was zum Teufel hatten Sie in Grorud bei dieser Lehrerin zu suchen? Und bei der Großmutter? Hätten Sie nicht einfach ...«
Sie kratzte sich an der Stirn, während sie schwach den Kopf schüttelte. Ihre Nägel waren einige Tage zuvor rot gewesen, jetzt war der Lack zur Hälfte abgeblättert. Dadurch machte sie einen ungepflegten Eindruck.
»Idiot«, sagte sie resigniert.
»Aber ich habe ziemlich viel herausgefunden«, sagte er kleinlaut.
Sie lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Armlehnen. Ihre knallrote Bluse spannte über den Brüsten, durch einen Spalt zwischen zwei Knöpfen sah er einen ebenso roten BH. Er schluckte.
»Meine Augen sind hier oben«, sagte sie und zeigte mit zwei ausgestreckten Fingern darauf.
Er hob den Blick zu einem Punkt an der Wand, gleich über ihrem Kopf, und versuchte, ihn dort zu halten.
»Ich bin achtundvierzig Jahre alt«, sagte sie mit einem Lächeln, das er nicht deuten konnte. »Wiege zehn Kilo zu viel und bin außerdem lesbisch. Suchen Sie sich ein passenderes Objekt.«
Sein verdammter Adamsapfel tanzte Cha-Cha-Cha. Henrik Holme hatte in seinem Leben dreimal eine Frau berührt,
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