Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
schlief ungewöhnlich leise. Er lag zusammengerollt auf der Seite, in die Decke gewickelt, obwohl es im Zimmer warm und stickig war. Inger Johanne war sicher, dass er das Fenster geschlossen hatte, es gab zwischen ihnen einen ewigen Kampf darum, ob es offen stehen sollte oder nicht. Sie hob vorsichtig den Korb mit der schmutzigen Wäsche hoch und trug ihn ins Badezimmer.
Ihr Bedürfnis, die Tür abzuschließen, musste sie einfach ignorieren. Nachdem Kristiane Ragnhild zweimal ins Badezimmer eingesperrt hatte, hatte Yngvar den Schlüssel versteckt. Inger Johanne schob den Arm zwischen die schmutzigen Kleider im Korb. Ihre Finger fanden schließlich unten eine Pappschachtel, und sie zog sie heraus.
Sie hatte noch nie einen solchen Test gesehen oder gar gemacht. Bei Kristiane und Ragnhild war sie sofort zum Arzt gegangen, als sie ernsthaft hoffen konnte, schwanger zu sein. Jetzt verspürte sie vor allem eine lähmende Furcht, und sie packte den Test mit Fingern aus, die nicht ganz dasselbe wollten wie sie. Sie riss die Schachtel in Stücke und fürchtete einen Moment, auch die Gebrauchsanweisung zerstört zu haben.
Eine Viertelstunde später hatte Inger Johanne keine Angst mehr. Sie saß auf dem Klodeckel und wusste, dass sie noch ein Kind bekommen würde. Ein Junge, da war sie sich sicher, ein kleiner Junge, der Tarjei heißen könnte. Sie presste die rechte Hand auf ihren Bauch und war gewiss: Sie erwarteten einen Sohn.
Der Test lag auf dem Rand des Waschbeckens. Im Display stand: »Schwanger + 3«.
Drei Wochen oder mehr.
Seit mindestens drei Wochen trug sie das in sich, was zu einem Kind werden würde. Im Kopf rechnete sie vorwärts. Ungefähr im März. Ein Frühlingskind würden sie bekommen, Yngvar und Inger Johanne. Alles würde sich finden, das wusste sie. Sie kannte Yngvar, es war dumm von ihr gewesen, ihn auf dem Gaupekollen zu überrumpeln, seine Antwort war ein Reflex gewesen, ein undurchdachtes Nein, das zu einem Ja werden würde, sowie sie ihm erzählt hatte, was ihnen bevorstand. Yngvar würde sich freuen, das wusste sie, so wie sich ihre eigene Furcht in Erwartung verwandelt hatte, als im Display das Pluszeichen aufgetaucht war.
Aber sie musste warten.
Sie starrte noch einmal das Stäbchen an, das zeigte, dass sie ein Kind bekommen würde. Sie brachte es nicht übers Herz, es wegzuwerfen. Rasch steckte sie es in die Schachtel zu dem unbenutzten Test und legte alles wieder unten in den Wäschekorb.
Sie konnte warten.
Yngvar war nicht er selbst. Nichts war wie sonst. Der Prozess würde zwar erst im nächsten Jahr beginnen, aber früher oder später würde in Yngvars Arbeit wieder eine Art Normalität einkehren. Jetzt war es noch zu früh, es war ja erst eine Woche vergangen. In einem Monat vielleicht, wenn der Sommer vorüber wäre und Norwegen auf irgendeine Weise zu sich selbst zurückfinden musste. So wie jetzt konnte niemand weitermachen, und für einen Monat würde sie das Kind allein tragen können.
Im Wohnzimmer schrillte das Telefon.
Yngvar durfte nicht aufwachen, und sie stürzte aus dem Badezimmer.
Es war ihr Handy. Sie packte es und ließ sich aufs Sofa fallen.
»Hallo?«
»Hallo. Spreche ich mit Inger Johanne Vik?«
»Ja, Entschuldigung, ich muss nur ... ja, am Apparat.«
»Hier ist Agnes Krogh. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber ich ...«
»Sie sind Ellens Mutter! Natürlich erinnere ich mich an Sie.«
»Es tut mir leid, dass ich so spät anrufe, noch dazu am Freitag. Es ist nur, weil ich ...«
Es rauschte, und Inger Johanne nahm das Telefon in die andere Hand und setzte sich bequemer hin.
»Das macht nichts«, sagte sie. »Ich bin ja wach und außerdem allein.«
»Danke. Ich rufe ganz einfach an, um zu fragen, ob wir uns bald treffen können. Ich würde gern mit Ihnen über etwas sprechen, das sich nicht für ein Telefongespräch eignet.«
»Ja. Natürlich können wir uns treffen.«
Inger Johanne wollte ihr schon ihr Beileid aussprechen, als ihr einfiel, dass Agnes und Torbjørn Krogh den Jungen seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatten. Irgendeine Art von Teilnahme müsste sie ja trotzdem zum Ausdruck bringen, aber ihr fiel nichts Passendes ein. Ellens Mutter kam ihr zuvor.
»Wir wohnen jetzt in Lillehammer«, sagte sie. »Das wissen Sie vielleicht nicht.«
»Nein ...«
»Als Torbjørn in Pension gegangen ist und wir nicht mehr am Leben von Ellen und Sander teilnehmen durften, haben wir das Haus verkauft und sind wieder hierhergezogen. Wir
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