Schattenkinder
Brief in Matthews Hand sah, machte der Vater ein besorgtes Gesicht. Matthew legte ihn neben Vaters Gedeck. Der seufzte.
»Das können nur schlechte Nachrichten sein«, meinte er. »Warum soll ich mir das schöne Essen verderben?
Der Brief kann warten.«
Er wendete sich wieder seinem Brathähnchen und den Klößen zu. Erst nach dem letzten Rülpser drehte er den Umschlag um, fuhr mit einem schmutzigen Fingernagel unter den Rand des Umschlags und faltete den Brief auseinander.
»Wir wurden darauf aufmerksam gemacht...«, las er laut. »Also, so weit hab ich's kapiert.« Dann las er eine Weile schweigend weiter, rief nur ab und zu aus: »Mutter, was heißt >Odor« und »Wo ist das Wörterbuch?
Matthew, schlag mal >Reziprozität< nach.« Schließlich schleuderte er den ganzen dicken Packen auf den Tisch und verkündete: »Sie wollen uns zwingen die Schweine zu verkaufen.«
»Was?«, rief Matthew aus. Solange sie denken konnten, hatte Matthew, der in solchen Dingen ernsthafter war als Mark, gesagt: »Wenn ich erst mal meinen eigenen Hof habe, züchte ich nur noch Schweine. Irgendwie kriege ich die Regierung schon dazu, dass sie mir's erlauben ...« Jetzt blickte er dem Vater über die Schulter.
»Du meinst, sie wollen uns zwingen ganz viele auf einmal zu verkaufen? Aber wir können doch die Herde wieder aufbauen...«
»Nee«, meinte der Vater. »Den Leuten in den feinen neuen Häusern da drüben wird der Schweinegeruch nicht gefallen. Also dürfen wir überhaupt keine Schweine mehr züchten.« Er schob den Brief in die Tischmitte, damit auch die anderen ihn sehen konnten. »Was erwarten die denn, wenn sie neben einer Farm bauen?«
Luke auf seiner Treppenstufe musste an sich halten, um den Brief nicht aus der Hühnersoße zu fischen, damit er ihn selbst lesen konnte.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Das können die doch nicht machen, oder?«, fragte er.
Niemand antwortete. Es war auch nicht nötig. Luke hätte sich auf die Zunge beißen können, sobald er die Worte ausgesprochen hatte. Zum ersten Mal war er froh über sein Versteck.
Mutter wrang ein Geschirrtuch in den Händen.
»Die Schweine sichern unsern Lebensunterhalt«, sagte sie. »Und so wie die Kornpreise im Moment sind ...
wovon sollen wir denn leben?«
Der Vater sah sie einfach nur an und kurz darauf machten es Matthew und Mark genauso. Luke wusste nicht, warum.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 6
Der Steuerbescheid kam zwei Wochen später, an dem Tag, an dem Vater, Matthew und Mark die Schweine auf den Viehanhänger verluden und sie allesamt wegfuhren. Die meisten kamen ins Schlachthaus.
Diejenigen, die zu jung waren oder zu wenig Gewicht hatten, um einen anständigen Preis zu erzielen, kamen auf eine Auktion für Masttiere. Durch den Ventilator an der Vorderseite des Hauses sah Luke den Vater in dem verbeulten alten Pritschenwagen mit jeder einzelnen Ladung vorbeifahren. Matthew und Mark saßen auf der Ladefläche und achteten darauf, dass der Anhänger auch ja am Wagen blieb. Selbst drei Stockwerke weiter oben konnte Luke Matthews Leichenbittermiene noch erkennen. Und dann, als die drei zum Abendessen ins Haus kamen und sich in der Waschküche zum letzten Mal den Schweinegeruch von den Händen gewaschen hatten, überreichte Vater der Mutter wortlos den Steuerbescheid. Sie legte den Holzlöffel hin, mit dem sie den Eintopf umgerührt hatte, und faltete den Brief auf. Dann ließ sie ihn fallen.
»Aber das ist...« Sie schien im Kopf etwas zu überschlagen, als sie sich bückte, um ihn wieder aufzuheben.
»Das ist dreimal so viel wie sonst. Das muss ein Fehler sein.«
Der Vater schüttelte grimmig den Kopf. »Es ist kein Fehler. Ich habe auf der Auktion mit Williker gesprochen.«
Die Willikers waren ihre nächsten Nachbarn, ihr Haus lag drei Meilen entfernt an der gleichen Straße. Luke stellte sie sich immer mit Monsterschuppen und Riesenklauen vor, weil er wer weiß wie oft zu hören bekommen hatte: »Du willst doch nicht, dass die Willikers dich sehen.«
Der Vater berichtete weiter. »Williker hat erzählt, dass sie wegen der teuren Häuser für alle die Steuern erhöht haben. Weil unser Land nun mehr wert ist.«
»Ist das denn nicht gut?«, fragte Luke interessiert. Es war merkwürdig - eigentlich müsste er die neuen Häuser hassen, weil ihnen sein Wald zum Opfer gefallen war und sie ihn zwangen im Haus zu bleiben. Aber in Wirklichkeit hatte er sich fast in sie verliebt, während
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