Schattenkrieg
konnte. Keelin war kurz davor gewesen, ihn darum zu bitten, die Kraft auf sie zu wirken. Wie mochte es sein, plötzlich keine Angst mehr zu haben … keine Furcht vor der Zukunft, keine Furcht vor der Gegenwart … und vor allem keine Angst mehr vor dem, was schon passiert war …
Als Keelin endlich einschlief, war es schon wieder Morgen.
Sie begann zu träumen.
Sie befand sich wieder an ihrer alten Arbeitsstelle, im Raigmore Hospital in Inverness. Alles war wie immer: Die Station war viel zu voll, teilweise standen die Betten sogar auf dem Gang, Elaine und Beth und ein paar Schülerinnen sprangen hastig hin und her. Niemand schien sie zu bemerken. In einem der Abstellräume sah sie Tamara, die auf einem alten Rollstuhl saß und bitterlich weinte. Keelin empfand sofort ein schlechtes Gewissen, ihre Kolleginnen im Stich gelassen zu haben, und zog sich schnell zurück.
Dann klingelte plötzlich der Notfallalarm über die Station. Tamara kam hastig aus dem Abstellraum und lief den Korridor entlang. Ein Arzt bog aus dem Haupttrakt in die Station ein und rannte ihr hinterher. Keelin folgte den beiden.
Der Notfall war in Zimmer 21. Ein älterer Mann saß aufrecht imBett, die Hand über dem Herzen in die Brust gekrallt, totenfahl und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Elaine kam hinzu, den Notfallwagen vor sich herschiebend.
»Wie alt?«, fragte der Arzt. Es war ein Assistenzarzt, den Keelin nicht kannte.
»Achtundsiebzig«, prustete Elaine.
Der Arzt sah zu Boden und schüttelte den Kopf. »Keine Therapie.«
»WAS?« Elaine wollte nicht glauben, was sie gehört hatte.
»Keine Therapie. Er ist zu alt.«
»Aber Sie können doch nicht –«
Der Arzt fiel ihr ins Wort. »Erzählen Sie mir nicht, was ich kann und was nicht!«, meinte er barsch. »Der Chef hat uns ganz klare Anweisungen gegeben. Unsere Kassen sind leer, wir sind froh, wenn wir die Therapien für
junge
Menschen noch zahlen können! Ist Ihnen lieber, wir lassen
die
sterben?«
»Nein, natürlich n –«
»Ich bin darüber ebenso unglücklich wie Sie, glauben Sie mir das!« Kopfschüttelnd drehte der Arzt sich um und ging zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ, deaktivierte er den Alarm.
Die beiden Schwestern blieben zurück, unschlüssig, was sie tun konnten und sollten. Der Patient kämpfte unterdessen weiter seinen verzweifelten Kampf gegen den Tod.
Plötzlich war da noch eine vierte Gestalt im Raum, von einem Moment auf den anderen erschienen. Sie trug einen grauen, in Fetzen gerissenen Kapuzenumhang und befand sich am Fußende des Bettes. Der Kopf war in die Richtung des Patienten gerichtet. Die beiden Schwestern schienen sie nicht zu bemerken.
Schatten!
schoss es durch Keelins Kopf. Die Ähnlichkeit mit der Gestalt, die damals das Schwesternwohnheim gestürmt hatte, war zu verblüffend. Ihre Hand ging reflexartig zu ihrer Hüfte, wo sie die letzten beiden Monate einen Dolch getragen hatte, doch nun hatte sie nur ihre gewohnte weiße Schwesterntracht an. Langsam wich sie zurück.
Der Schatten wandte seinen Kopf zu ihr um.
Hab keine Angst vor mir, Keelin! ,
hörte sie seine Worte plötzlich
in
ihrem Kopf.
Es ist nicht so, wie du denkst.
Unter der Kapuze befanden sich zwei große, in allen Regenbogenfarben irisierende Augen, freischwebend ohne einen Kopf dazu
.
Keelin zögerte. Ihr Blick ging zu den Ärmeln, die nur noch in Stümpfen vorhanden waren. Der Schatten –
oder was auch immer es ist
– hatte keine Arme! Er hatte auch keine Beine, sondern schien über dem Boden zu schweben. Die Fetzen des Umhangs bewegten sich wie kleine Tentakel langsam durch die Luft, ungerichtet und ziellos. Keelin korrigierte ihre erste Einschätzung. Das da war kein Schatten. Es wirkte eher … wie ein
Gespenst
…
Ich nehme die Gestalt an, die du mir gibst,
gab ihr das Gespenst die Gedanken ein.
Hältst du mich für ein Schreckgespenst, so werde ich für dich wie eines aussehen.
»Aber … was bist du dann?«
Ich bin ein Geist.
»Ich bin schon einmal einem Geist begegnet!«, erwiderte Keelin. »Es war der Geist eines Adlers. Warum sollte ich einen Geist für ein Schreckgespenst halten?«
Weil ich kein Geist der freien Wildnis bin. Mein Aspekt ist der … Schmerz.
Keelin wurde blass. Fiona hatte ihr einmal über die gefallenen Geister von Inverness erzählt, die von dem Monster in Loch Ness zerstört und als Zerrbild ihrer Selbst, als
Phantome
wiedererschaffen worden waren. Sie befand sich in höchster Gefahr, Traum oder nicht Traum!
Warte, Keelin! Du
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