Schattenkrieg
abzulenken.
Weil ich dir die Kraft der Schmerzen verleihen werde, Keelin Eibentochter. Was wäre ein Heiler, der nicht die Qualen der ihm Anvertrauten lindern könnte?
Keelin schluckte überrascht. Doch sogleich fielen ihr die Worte ein, die ihr Rowena für eine solche Situation beigebracht hatte. Sie verbeugte sich und murmelte: »Ich danke Euch und hoffe, dass ich mich Eurer Gabe würdig erweise.«
Das wünschen wir alle.
Plötzlich blickte sich Elaine hastig über die Schulter, sah zur Tür. Dann griff sie in ihre Kitteltasche und zog eine Plastikampulle und eine Spritze hervor.
»Was um Himmels willen macht sie da?«, stieß Keelin aus.
Sieh hin!
Elaine drehte den Verschluss der Ampulle ab und zog die Spritze auf. Keelin konnte die Aufschrift nicht lesen, aber sie hatte einen schrecklichen Verdacht. Nur wenige Medikamente kamen in Plastikampullen. Wasser, Kochsalzlösung … und
Kalium
! Mit einer Überdosis Kalium konnte man Leute umbringen!
»Aber …«, stammelte Keelin, »sie kann doch nicht …«
Warum nicht?
»Weil … weil … weil es
Mord
ist!«
Wie hypnotisiert und mit offenem Mund beobachtete Keelin, wie Elaine eine Staubinde um den Oberarm des Mannes legte und seine Ellbeuge nach einer Vene absuchte. Dann steckte sie eine Kanüle auf die Spritze, zog die Schutzhülle ab und stach zu. Sorgfältig und langsam injizierte sie ihm die Lösung.
Warum ist es Mord?
fragte der Geist.
Weil es im Gesetz steht?
»Ja! Oder … Nein! Weil sie sich nicht sicher sein kann, dass er es will! Vielleicht überlebt er ja!«
Wie viele Menschen müssen leiden, müssen alptraumhafte Qualen erdulden, damit
einer
überlebt? Glaube mir, Keelin, dieses Mädchen hat
sich diese Entscheidung nicht einfach gemacht. Doch es gehört zu den Aufgaben eines Heilers, auch diesen letzten Dienst am Menschen zu übernehmen. Du bist eine Eibe, Keelin. Niemand hat gesagt, dass der Pfad einer Eibe einfach und angenehm ist. Nun geh und erwache! Es ist Zeit für dich, in deinen Körper zurückzukehren!
Keelin nickte. Als sie sich umdrehen wollte, fiel ihr Blick auf den Mann. Sein schmerzverzerrter Blick war verschwunden, die bisher so verkrampfte Hand lag entspannt auf der Decke. Im ersten Moment hielt sie ihn schon für tot, doch dann erkannte sie, dass er atmete.
Der Geist bemerkte ihren Blick.
Ich nahm seine Schmerzen. Es dauert nun nicht mehr lange. Nun muss ich ruhen … Leb wohl, Keelin Eibenkind, und denke an meine Worte …
Keelin nickte. »Lebt wohl.«
VERONIKA
Gnjilane, Kosovo
Donnerstag, 11. Februar 1999
Die Außenwelt
»Sind Sie fertig, Tönnes?« Veronika lugte durch die Tür in das Besprechungszimmer, das sie für ihre Büroarbeit benutzte.
Der Unteroffizier blickte vom Schreibtisch auf. »Ich bin Fallschirmjäger, kein Bleistiftspitzer!«, frotzelte er. »Dauert noch ein bisschen, Frau Leutnant!«
»Wäre gut, wenn Sie das bis morgen hinkriegen würden.«
Sie hörte noch ein gequältes Grunzen, bevor sie hinter sich die Tür schloss und nach oben in ihr Zimmer ging. Dort stellte sie ihre Taschenlampe auf, wickelte sich in eine der Wolldecken ein und ließ sich in ihren Stuhl sinken. Sie seufzte müde. Dann griff sie nach dem Stapel Papier, der neben der Taschenlampe auf dem Tisch lag, und machte sich daran, ihn ein weiteres Mal Korrektur zu lesen.
Sie durfte keinen Fehler machen, wenn sie Ulrich hinter Gitter bringen wollte.
Hauptmann Hagen war natürlich entsetzt gewesen, als sie die Vorwürfe gegen ihren Zugfeldwebel vorgebracht hatte. Sie wusste, dass er am liebsten den ganzen Vorfall unter den Teppich kehren würde. Doch das konnte Veronika nicht zulassen. Fatima hatte sie vor Ulrich gewarnt, und sie hatte recht behalten – der Mann war eine Gefahr und musste aus dem Verkehr gezogen werden. Sie würde ihn wegen Befehlsverweigerung und Tötung eines Wehrlosen drankriegen. Wenn ihre übelsten Vermutungen stimmten, würde er damit noch viel zu gut wegkommen.
Er hat versucht, mich umzubringen!
Im Nachhinein betrachtet, schien alles so klar und logisch zu sein. Seine merkwürdige gute Laune, als sie das Dorf betreten hatten, das dämliche Grinsen, das sie nicht hatte einordnen können, alles deutete nun darauf hin, dass er sich auf etwas gefreut hatte. An der Moschee war er plötzlich angespannt und erregt gewesen, als ob er
gewusst
hätte, dass gleich etwas passieren würde. Und dann die überraschende Umarmung, als sie aus der Moschee herausgekommen war. Hatte nicht Judas Jesus umarmt,
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