Schattenkrieg
Ulrich.
Veronika hielt seinem Blick mühelos stand, obwohl sie dazu den Kopf in den Nacken legen musste. »Natürlich, melden Sie das. Melden Sie, dass Sie von Ihrem
direkten Vorgesetzten
eine Ohrfeige bekommen haben, weil Sie sich benommen haben wie ein bockiger Rekrut am ersten Tag der Grundausbildung! Und vergessen Sie nicht, Ihre Aktivitäten von heute Nacht gleich mitzumelden!« Sie setzte sich wieder, ohne Ulrichs Reaktion abzuwarten. »Es scheint fast so, als ob es eine Ohrfeige benötigen würde, um Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Ich bin Ihr vorgesetzter Offizier, und Sie müssen mich aushalten, ob Sie es wollen oder nicht! Warum können Sie mit dem Kindergarten nicht einfach aufhören und sich benehmen wie ein erwachsener Mensch?«
In Ulrichs Miene verschwand die kurz zum Vorschein getretene Wut und machte Verachtung Platz. Veronika fluchte innerlich. Wie konnte der Mann nur so verbohrt sein? Und warum musste ausgerechnet ein solcher Typ ihr Zugfeldwebel sein? Sie seufzte. »Ich warte immer noch auf eine Antwort.«
Bender meldete sich zu Wort: »Wir hatten gestern Abend eine kleine Feier, deshalb haben die Männer heute Morgen einen falschen Eindruck vermittelt …«
»Eine kleine Feier? Haben Sie sich so auf mich gefreut?«, fragtesie süffisant. Es war klar, dass die Party wohl eher so etwas wie ein letztes Austoben war, bevor der neue Offizier da war. Das konnte sie verstehen, sie hätte es wahrscheinlich genauso gemacht. Was sie aber nachdenklich machte, war die Tatsache, dass sie in der Nacht nichts davon mitbekommen hatte. Waren sie dafür etwa außerhalb des Stützpunktes gewesen?
»Äh … ja«, beantwortete Bender ihre letzte Frage.
Schmieriger Kerl,
dachte Veronika, sagte aber nur: »Also gut.« Ihr war die Lust vergangen, im Sumpf der letzten Tage zu rühren. Sie wand sich organisatorischen Fragen zu. »Kollborn, ich habe beschlossen, während der Patrouille die zweite Gruppe selbst anzuführen. Sobald wir den Stützpunkt verlassen haben, sind Sie somit vorerst von Ihrem Kommando entbunden. Haben Sie etwas dazu zu sagen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. Die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Damit würde sie sich schon einmal an eine ihrer Gruppen gewöhnen. Später, wenn sie die Männer besser kannte, fand sich dann schon ein Ersatz für Kollborn. »Was jetzt meine wichtigste Frage ist: Was sind Ihrer Ansicht nach die momentan größten Probleme für diesen Zug? Und dabei meine ich alles, was Sie sich unter Problemen so vorstellen können. Sprechen Sie ruhig, was Sie sagen, wird diesen Raum nicht verlassen.«
Der Gesichtsausdruck Ulrichs sprach Bände: Momentan war
sie
das größte Problem. Ob der Mann wusste, wie sehr sich seine Gedanken in seinem Gesicht widerspiegelten?
Die anderen brachten mehr oder weniger vernünftige Meinungen in das Gespräch ein. Das größte Problem war natürlich die Tatsache, dass die Fallschirmjäger sowohl von den Kosovo-Albanern als auch von den Serben verachtet und deshalb oft beschossen wurden. Da sie nichts dagegen tun konnte, ging sie nicht näher darauf ein. Die anderen Probleme waren verschiedener Natur: zu wenig Männer, kein Nachschub, nicht genügend Ausrüstung, zu wenig Freizeit. Veronika glaubte fast zu spüren, wie sich ihre Haareaufstellten, während sie den Männern zuhörte. Es war schon schlimm genug, dass viele ihrer Männer noch immer mit dem alten G3 ausgerüstet waren – doch dass kaum einer von ihnen kugelsichere Westen oder Panzerjacken besaßen, war schon fast ein Verbrechen. Immerhin ließen sich die Soldaten nicht über die sonstigen Bedingungen aus, wie Essen oder Unterkunft.
Kurz vor 10:00 Uhr beendete sie die Runde und ging zu ihrem Treffen mit Hauptmann Hagen. Der Kompaniechef wirkte auf sie wie einer dieser früheren preußischen Offiziere, die man manchmal im Fernsehen zu Gesicht bekam, mit ausladendem grauem Schnurrbart, einem stattlichen Bauch und allem Lametta an der Brust, das ein Karriereoffizier ohne große Kampferfahrung in seiner Laufbahn erwerben konnte. Nur seine Art widersprach dem martialischen Eindruck: Er wirkte zurückhaltend und beinahe etwas scheu. Er erging sich in Höflichkeiten und viel Gerede darüber, dass es für eine Frau äußerst bemerkenswert war, in ihre Position zu gelangen. Die einzige wirklich verwertbare Information, die er ihr während des gesamten Gesprächs gab, war, dass er seinen Zugführern völlig freie Hand
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