Schattenkrieg
Bildnis der Göttin Bormana, von der man Schutz und Segen für die Sippschaft erbat oder Fruchtbarkeit für Vieh und Mensch. An Bormanas Gesetzen würde er bei den Plünderungen den schwersten Frevel begehen.
Deweydrydd bemerkte, dass er nicht mehr alleine war, doch er ließ sich nicht bei seinem Gebet stören. Derrien drängte ihn auch nicht, stattdessen setzte er sich mit geschlossenen Augen auf eine Kiste und lauschte nach draußen. Neben dem Trommeln der Regentropfen auf der Zeltplane und den Rufen eines Kauzes war die Nacht totenstill.
»Du willst mich sprechen?«, fragte der Waliser schließlich.
Derrien öffnete die Augen und nickte. »Du bist nicht zufrieden mit meinen Befehlen.« Er setzte sich ihm gegenüber auf einen niedrigen Holzhocker.
Deweydrydd fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er seufzte, sichtbar unsicher, wie er antworten sollte. Schließlich meinte er: »Nein. Fomorer im Kampf zu töten ist eine Sache. Sie kaltblütig zu ermorden ist etwas anderes.«
Für dich vielleicht. Für Murdoch bestimmt nicht. Und für mich selbst auch nicht, wenn ich dem Blutrausch verfallen bin.
Er schob den Gedanken zur Seite und sagte: »Wenn wir ihre Dörfer verbrennen und ihr Vieh erschlagen, wohin werden sie fliehen, denkst du?«
»Nach Süden in Richtung Bergen. Dorthin, wo wir sie nicht haben wollen.« Er strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Derrien, ich
weiß,
dass wir verhindern müssen, dass sich diese Fomorer mit ihrer Hauptstreitmacht zusammenschließen. Du kennst mich. Ich bin der Erste, wenn es darum geht, gegen Fomorer zu kämpfen, mit ihnen von Angesicht zu Angesicht die Klingen zu kreuzen. Aber ihre Frauen und Kinder zu erschlagen …« Er beendete den Satz nicht.
»Ich wäre froh, wenn ich eine andere Lösung finden würde! Aber solange es keinen anderen Weg gibt …«
Deweydrydd stand auf, um seine eingeschlafenen Beine zu bewegen. Als er sich wieder setzte, blickten seine Augen an Derrien vorbei ins Leere. »Derrien … ich muss die ganze Zeit an meine Gwen denken. Sie war auch ein Fomorer, bevor wir sie gefangen genommen haben.«
Derrien nickte nachdenklich.
»Wenn wir damals«, murmelte der Waliser, »… wenn die Situation damals dieselbe gewesen wäre wie sie nun ist, hätte ich vielleicht meine Gwen getötet. Ich
liebe
sie, mit ganzem Herzen, sie und ihre beiden Söhne, die inzwischen auch meine Söhne sind. Wie soll ich ihr jemals wieder in die Augen sehen, wenn ich mordend durch die Gegend ziehe und anderen Müttern das Schwert in den Bauch ramme?«
»Du tust es, um sie zu beschützen«, antwortete Derrien ruhig.
»Soll ich ihr das etwa sagen? Was soll ich ihr antworten, wenn sie mich fragt, warum ich es getan habe? Etwa: ›
Ich habe es für dich getan
?
‹
«
Derrien atmete tief ein. Deweydrydd machte es sich nicht leicht,
und mir auch nicht, verdammt
… Aber es musste getan werden, so unschuldig diese Fomorer vielleicht auch sein mochten! Sie würden ihre Unschuld spätestens dann verlieren, wenn Rushai sie in die Schlacht schickte! Und Deweydrydd war neben Murdoch der Einzige, den er damit beauftragen konnte! Er setzte zu einer Antwort an, doch der Waliser kam ihm zuvor:
»Ich weiß, Derrien, dass es keine gute Antwort darauf gibt. Du gibst deine Befehle nach bestem Gewissen. Ich sollte dir diese Aufgabe nicht noch schwieriger machen.« Tränen glänzten in seinen Augen im Widerschein der Öllampen im Zelt, er lächelte jedoch. »Danke, dass du noch einmal mit mir gesprochen hast.«
Derrien stutzte einen Moment, überrascht von der Wendung des Gesprächs. Dann nickte er langsam. »Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt«, sagte er, weil es das Einzige war, was die Situation zuließ, »werde ich alles daran setzen.« Er stand auf und zog Deweydrydd auf die Füße. Mit der Linken klopfte er ihm auf die Schulter. »Wenn dieser Krieg vorbei ist, wenn du nach Hause zu deiner Gwen und deinen Kindern zurückkehrst, wird das, was du hier getan hast, nicht mehr wichtig sein.« Dann wandte er sich um.
Als er die Zeltplane anhob, um nach draußen zu treten, hörte er den Waliser leise murmeln: »Ich wünschte, es wäre so …«
KEELIN
Inverness, Schottland
Donnerstag, 05. November 1998
Die Außenwelt
Keelin befand sich wieder auf dem schmalen Pfad, der in das Glen Affric führte. Es war tief in der Nacht. Außer ein paar Eulen, die in der Dunkelheit buhten, und dem Plätschern des Baches lag das Tal in absoluter Stille.
Sie wanderte in Richtung des Dorfes.
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