Schattenkuss
später schob sie die Tür zur Buchbinderwerkstatt ihrer Großtante auf und trat ein.
Tante Marie saß über einen dicken Folianten gebeugt an der Werkbank. »Nicht erschrecken. Ich bin’s. Lena.«
Verwundert hob Tante Marie den Kopf und musterte Lena vom Scheitel bis zur Sohle. Ihre Stirn zog sich zu einem missbillgenden Faltengebirge zusammen. Doch dann grinste sie plötzlich. »Mädel! Mädel! Du siehst runtergerissen wie Ulrike aus.« Sie legte ihre Arbeit beiseite und griff nach der Zigarettenschachtel. »Magst du auch eine?«
Lena lehnte ab.
»So vernünftig wie ihre Mutter.« Das Feuerzeug ratschte. Einen Moment später inhalierte Tante Marie tief und stieß dann einen zufriedenen Seufzer aus. »In meinem Alter ist Vernunft nicht mehr so wichtig.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Sogar die Frisur stimmt. Weshalb machst du das?«
»Einfach so. Ich habe Fotos gefunden und unsere Ähnlichkeit entdeckt.«
»Hat Steffi dich schon gesehen? Du weißt schon, dass du damit bei deiner Mutter alte Wunden aufreißt, oder? Sie hat es bis heute nicht verwunden, dass Ulrike mit ihrer Familie nichts mehr zu tun haben will. Steffi ist nicht aus Stahl, auch wenn das manchmal so scheint.«
»Mir egal. Das Thema ist jetzt ohnehin auf dem Tisch«, erwiderte Lena. Sie hatte nicht das Gefühl, dass Steffi Ulrike sehr vermisste, auch nicht nach dem, was sie vorhin vor der Kamera von sich gegeben hatte. Ohne Ulrike ließ sich die Erbschaft nicht regeln, also Omas Haus nicht verkaufen. Steffi brauchte ihre Schwester, um ans Geld zu kommen.
Lena bückte sich, holte den Camcorder aus dem Rucksack und erklärte Tante Marie ihr Projekt.
»Eine schöne Idee.« Tante Marie schüttelte gedankenverloren den Kopf und drückte die Zigarette aus. Dann ging sie zu einem alten Tisch, der in einer Ecke stand, und setzte sich. »Hier ist das Licht weicher. Da sieht man meine Falten nicht so.«
Lena nahm gegenüber Platz und zentrierte das Gesicht ihrer Großtante im Display. »Was fällt dir als Erstes ein, wenn du an Ulrike denkst?«
»Hoppla. Geht es schon los? Ihr Lachen«, antwortete Tante Marie. »Sie war ein fröhliches Mädchen. Fröhlich, witzig, selbstbewusst. Ja, so war sie. Sie war überall beliebt und die Jungs … die waren alle hinter ihr her. Das hat natürlich zur Folge gehabt, dass nicht alle Mädchen Ulrike mochten.«
»Wenn du eine negative Eigenschaft nennen müsstest, was wäre das?«
»Du bist klug, Lena. Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Stimmt. Ulrike nahm es mit der Wahrheit nicht immer so genau. Aber das ist menschlich. Das tun wir alle. Mehr oder weniger. Ulrike vielleicht ein bisschen mehr.«
»Du meinst, als sie ihre Eltern ein Schuljahr lang über ihre schlechten Noten belogen hat?«
»Aha, du hast Steffi schon interviewt und weißt vom großen Zoff an Karls Geburtstag.«
Lena nickte. »Und das war echt der Grund, weshalb sie weggelaufen ist? Bisschen dürftig für zwanzig Jahre, oder?«
»Sagt Steffi das?«
»Ja.«
»Hmm?« Tante Marie zupfte an ihrer Nasenspitze. »Das ist nur die halbe Wahrheit. Deswegen allein wäre Ulrike nicht auf und davon oder wenn, dann wäre sie nach ein paar Tagen zurückgekommen.«
»Was war dann der Grund?«
»Was schon? Liebeskummer. Alle Jungs waren in Ulrike verschossen. Beinahe alle. Nur einer nicht. Mike. Und ausgerechnet in den hatte Ulrike sich hoffnungslos verguckt. Bis es dann endlich gefunkt hat. Als sie damals zu mir in die Werkstatt kam, war sie so glücklich. Sie hat mich umarmt und richtig von innen heraus gestrahlt. Aber dann …« Mitten im Satz stoppte Tante Marie, plötzlich verschloss sich ihre Miene.
»Aber was?«
»Ach!« Verärgerung machte sich in ihrem Gesicht breit. »Er hat sich in eine andere verliebt. Natürlich. Am Geburtstag ihres Vaters hat er Ulrike das gesagt, ausgerechnet an dem Tag.«
Das klang nach großer Tragödie. Deren Protagonisten wollte Lena unbedingt interviewen. »Weißt du, wo ich diesen Mike und das andere Mädchen finden kann?«
Es sah aus, als zögere Tante Marie einen Moment. »Nein. Tut mir leid.«
»Weshalb nicht?«
Wieder ein Zaudern. »Er war nicht … er wohnte in München. Und das Mädchen …« Tante Marie zuckte die Schultern, stützte sich am Tisch ab und stand auf. »So, jetzt muss ich weiterarbeiten.«
8
Steffi war noch nicht zurück, als Lena heimkam. Im Flur stapelten sich Pappkartons. Auf dem Tisch in der Küche lag ein Zettel mit der Bitte an Lena, Omas zahlreiche Zeitungen und
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