Schattenkuss
Schläfen. »In der Nacht hat Ulrike ihre Sachen gepackt und ist auf und davon.« Steffi blickte auf. »Übrigens nicht zum ersten Mal. Das hat sie im Jahr davor schon einmal getan, als sie in der Schule mit einem Lehrer nicht klarkam.«
»Haben Oma und Opa die Polizei eingeschaltet?«
Steffi warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Erst haben wir abgewartet, ob sie von alleine wiederkommt, wie beim ersten Mal. Dann haben wir … habe ich in München nach ihr gesucht. Ich habe damals dort studiert. Dorthin war sie auch im Jahr zuvor ausgebüchst. Als sie drei Tage nach ihrem Verschwinden immer noch nicht wieder da war, haben meine Eltern eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Aber die Polizei hat sich nicht sehr engagiert. Ulrike galt als Ausreißerin. Ein halbes Jahr später ist sie volljährig geworden. Und Erwachsene dürfen ihren Aufenthaltsort selbst bestimmen. Die Suche wurde eingestellt.« Wieder sah Steffi auf die Uhr. »Ich muss los.«
»Wohin?«, fragte Lena, obwohl sie es ahnte. »Zu Sternberg?«
»Es gibt noch eine Menge zu erledigen.« Steffi stand auf und verließ die Terrasse, bevor Lena fragen konnte, ob denn auch Oma und Opa die Suche eingestellt hatten.
7
Auf dem Weg zu Tante Marie begegnete Lena Florian, der gerade die Filiale der Sparkasse verließ und das Schloss an seinem Mountainbike aufsperrte. Er stutzte.
Lena nahm Ulrikes Sonnenbrille ab. »Hi Florian.«
Gestern am See hatte sie sich zurückgezogen. Offenbar hatte sie Florians Verhalten missverstanden. Er war nicht an ihr interessiert, sondern an Rebecca. Wie er ihr den Rücken eingecremt hatte und später beim Wasserballspielen diese ständigen Bodychecks, das war ziemlich eindeutig gewesen. Sie hatte keine Lust gehabt, länger zuzusehen, wie die beiden sich anschmachteten, und war mit Daniel bis zum anderen Ufer geschwommen. Nebeneinander hatten sie im Gras gelegen, bis sich ihre Körper aufgewärmt hatten. Als sie zurückgekommen waren, hatte Rebecca sich auf ihrem Badetuch gerekelt. Florian hatte neben ihr gesessen und gesagt: »Ich wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
Lena rätselte noch immer, ob er diese Bemerkung spaßig oder verärgert gemeint hatte, als er sich jetzt auf das Mountainbike schwang.
»Hi Lena«, erwiderte er ihren Gruß. »Völlig neuer Look. Ich hab dich fast nicht erkannt.«
»Ich geb das Double meiner verschwundenen Tante. Das sind ihre Klamotten.«
»Du hast eine Tante, die verschwunden ist?« Neugierig sah er sie an. Klar, er wusste natürlich nichts von Ulrike. Sie war ja aus Altenbrunn verschwunden, bevor Florian geboren wurde.
»Das ist eine längere Geschichte.«
»Ich treffe mich gleich mit Daniel im Il Cappuccino . Hast du Lust mitzukommen?«, fragte Florian.
Lena nickte. Sie gingen ins nahe gelegene Café, wo Daniel bereits in einer Fensternische wartete. »Hi Lena. Schön, dich zu sehen.«
Sie bestellten Latte macchiato und Sandwiches. Während sie auf ihr Essen warteten, erzählte Lena von Ulrike und endete mit der Begegnung mit Florians Oma und Omi vor dem Ärztehaus. »Deine Uroma denkt, sie ist tot. Jedenfalls hat sie mich für ihren Geist gehalten.«
Daniel grinste. »Wenn Geister so aussehen, dann übernachte ich freiwillig in jedem Spukschloss.«
»Und was meinst du?«, fragte Florian.
»Meine Tante schreibt ab und an. Das letzte Mal vor zwei Jahren. Also damals hat sie jedenfalls noch gelebt.« Lena holte den Camcorder aus dem Rucksack, schaltete ihn ein und zoomte Florian heran. »Meine Tante hat Altenbrunn verlassen, bevor du geboren wurdest. Sagt dir der Name Ulrike Beermann trotzdem etwas?«
Florian schüttelte den Kopf. »Nein. Nie gehört.«
»Hat meine Oma nie über sie gesprochen oder deine Eltern oder Großeltern?«
Bedauernd zog Florian die Schultern hoch. »Kein Wort. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht, als ich noch klein war. Aber jetzt verstehe ich endlich, weshalb deine Oma auf mich immer unglücklich gewirkt hat.«
Lena schwenkte zu Daniel, der sie nachdenklich musterte. »Und du, Daniel? Spricht man im Dorf wirklich nicht über Ulrike? Hat man sie schon vergessen?«
»Scheint so. Mir geht es wie Florian. Ich habe den Namen noch nie gehört.«
Die Kellnerin brachte die Getränke und das Essen. Das Thema wechselte. Daniel und Florian wollten nächstes Jahr eine Trekkingtour durch Thailand machen und überlegten, wie sie die Reise finanzieren sollten. Als Lena fertig gegessen hatte, zahlte sie und verabschiedete sich.
Ein paar Minuten
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