Schattenkuss
nicht?«
Zu ihrem Erstaunen spielte Steffi mit. Mit den Zeigefingern massierte sie sich die Schläfen und blickte dann auf. »Ulrike ist zwei Jahre jünger als ich. Sie war Mamas und Papas Liebling, während ich die Rolle der großen, vernünftigen Schwester innehatte. Natürlich hat es Spannungen gegeben. Sie war der Wirbelwind, ich die Zuverlässige. Brachte ich schlechte Noten heim, was selten vorkam, gab es Ärger. Bei Ulrike wurde darüber hinweggesehen, solange es sich in erträglichen Grenzen hielt. Ich habe mir jedes Stückchen Freiheit hart erkämpft, Ulrike rannte offene Türen ein. Du kannst dir vorstellen, dass wir uns nicht besonders geliebt haben. Das heißt, ich habe sie nicht besonders gemocht.«
»Aber Ulrike dich schon?«
Ein Schmetterling flog vorbei, hinüber zu den Dahlien. Steffi folgte ihm mit den Augen, bis er sich setzte, dann sah sie in die Kamera. »Ulrike war … das heißt, ich hoffe, sie ist es noch, ein fröhlicher Mensch, unkompliziert und offen. Wenn sie einen Raum betrat, wurde er gleich ein wenig heller, dann galt alle Aufmerksamkeit ihr. Natürlich hat sie mich gemocht. Dass unsere Eltern uns unterschiedlich behandelten … darunter litt ja nicht sie, sondern ich.«
»Warst du eifersüchtig auf sie?«
Steffi wirkte überrascht. Sie setzte zu einem Widerspruch an, lenkte dann aber ein. So offen hatte Lena ihre Mutter in letzter Zeit selten erlebt. »Ja, ich war eifersüchtig. Ulrike stand immer im Mittelpunkt. Alle liebten sie. Und ich war die graue Maus, die sich abstrampelte, um auch ein wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen.«
Steffi eine graue Maus? Auf die Idee wäre Lena nie gekommen. Ihre Mutter wirkte so resolut, wusste immer, was sie wollte, was zu tun und vor allem, was richtig war. »Aber Ulrike ist weggelaufen«, wandte Lena ein. »Dafür muss es einen Grund geben. Und der muss schon heftig gewesen sein. Ich meine, weglaufen ist eine Sache. Sich zwanzig Jahre von der Familie fernhalten, eine ganz andere. So sonnig kann ihr Leben nicht gewesen sein. Was ist damals passiert?«
Die Hand ihrer Mutter strich über die Tischplatte. Lackierte Nägel, der Ehering am Ringfinger. Neben dem Wasserglas blieb sie liegen. Steffi sagte eine ganze Weile nichts. Lena schwenkte von der Hand zum Gesicht. Es wirkte verschlossen. Nachdenklich starrte Steffi auf einen Punkt neben ihrer Hand. Dann hob sie den Kopf. »Eines habe ich vergessen zu erwähnen. Ulrike war eine Lügnerin. Ich meine, jeder von uns flunkert mal. Aber bei Ulrike war das mehr. Das reichte von Wahrheiten verdrehen und schwindeln bis zur faustdicken Unwahrheit.«
»Und?«, drängelte Lena, als ihre Mutter schwieg und wieder völlig in sich gekehrt schien. »Ist sie mit einer aufgeflogen und deshalb auf und davon?«
»Das kann man wohl sagen.« Steffi rutschte im Stuhl nach vorn. »Es war am fünfzigsten Geburtstag unseres Vaters. Es gab ein großes Fest. Hier draußen.« Mit einer Handbewegung erfasste sie Omas Garten. »Erst gab es ein Kuchenbuffet und später haben wir gegrillt. Die ganze Verwandtschaft war da und natürlich Papas Freunde. Es war Juni, kurz vor Notenschluss. Ulrike ging aufs Gymnasium und war schon zweimal sitzen geblieben. Ein weiteres Mal konnte sie sich nicht erlauben. Damit wäre die Aussicht auf das Abitur flöten gewesen. Und genau darauf legte unser Vater großen Wert. Seine Töchter sollten es mal besser haben als er, der es nur bis zum Busfahrer geschafft hatte, und dafür hielt er das Abitur für unabdingbar. Es musste kein Einserabi sein. Bei Ulrike hätte ihm auch ein knapp geschafft genügt. Und nun stellte sich bei dieser Geburtstagsfeier heraus, dass sie ihn belogen hatte, was ihre Noten betraf. Das ganze Schuljahr über. Den blauen Brief, der am selben Tag gekommen war, hatte sie abgefangen und in irgendeine Schublade gestopft, und genau da fand Vater ihn, als er etwas suchte. Ich glaube, es waren die Grillanzünder.«
Auweia, dachte Lena.
»Es gab einen riesigen Krach. Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Die beiden schrien sich in der Küche an, Türen wurden geknallt und eine Scheibe ging zu Bruch. Ulrike musste auf ihr Zimmer und bekam vier Wochen Ausgehverbot. Eine solche Behandlung war sie nicht gewöhnt. Normalerweise verhätschelte Papa sie, ließ ihr beinahe alles durchgehen. Doch die Tatsache, dass sie nun kein Abi machen konnte … das war einfach zu viel für ihn, selbst wenn es um seine Lieblingstochter ging.« Wieder massierte Lenas Mutter ihre
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