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Schattenkuss

Schattenkuss

Titel: Schattenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Loehnig
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Auf dem Absatz machte sie kehrt, die Uroma noch immer an der Hand. Die aber stand da wie angewurzelt und starrte Lena mit offenem Mund und aufgerissenen Augen an. Dann hob sie fuchtelnd die freie Hand. »Von den Toten auferstanden«, flüsterte sie heiser. »Von den Toten auferstanden. Das Jüngste Gericht. Es naht. Babette. Es naht.« Ein Speichelfaden spannte sich zwischen Ober- und Unterlippe des offenen Mundes. Der Blick hatte etwas Irres. Lena fröstelte.
    »Ja, Omi. Aber vorher machst du Mittagsschlaf. Jetzt komm!« Florians Oma zog die alte Frau hinter sich her und ließ die erstaunte Lena einfach stehen.
    Was war das denn gerade für ein gruseliger Auftritt gewesen? Von den Toten auferstanden. Bitte? Lena ging hi­nüber zum Brunnen und setzte sich auf eine Bank. Ulrike schrieb Postkarten. Wenn auch selten. Sie lebte also. Mit einem Kopfschütteln sah Lena den beiden Leitner-Frauen nach, die über den Marktplatz eilten.
    Wie Ulrike wohl war? Vermutlich ganz anders als Steffi, die sicher niemals in ihrem Leben zerfetzte Jeans und Doc Martens getragen hatte. Ziemlich sicher waren Ulrike und Steffi ebenso gegensätzliche Schwestern wie Oma und Tante Marie.
    Aus unerfindlichen Gründen hatte Ulrike sich abgesetzt und einen Schlussstrich unter das Thema Familie gezogen. Wieso eigentlich unerfindlich? Lena starrte auf die Doc Martens an ihren Füßen. Dann stand sie auf. Ihr Plan stand fest. Sie musste mit Verwandten und Freunden reden, Plätze und Orte aufsuchen, an denen ihre Tante häufig gewesen war. Sie würde erfahren, was Ulrike gerne tat und was ihr zuwider war. Es war die einzige Möglichkeit, sich ihr zu nähern, sich ein Bild von ihrer Tante zu machen.

6
    Lena entschloss sich, als Erste Tante Marie zu interviewen. Dafür brauchte sie den Camcorder und der war in Omas Haus.
    Sie ging heim, übertrug die Daten der letzten Filme auf ihren Laptop und löschte dann die Speicherkarte. Nun waren vierundsechzig Gigabyte frei. Das reichte eine Weile.
    Als sie gehen wollte, entdeckte sie Steffi. Sie saß auf der Terrasse und trank ein Glas Wasser. Bestimmt würde es jetzt Stress geben, wegen ihres Ulrike-Looks und wegen der unaufgeräumten Küche. Trotzdem wollte Lena sich diese Chance nicht entgehen lassen. Sie würde ihre Dokumentation über Ulrike mit deren Schwester beginnen.
    Steffi blickte auf, als Lena die Terrasse betrat, fuhr zusammen und fegte beinahe das Glas vom Tisch. »Ul…Lena! Was soll das! Herrgott. Wo hast du die Sachen her?«
    »Aus Ulrikes Schrank. Deine Mutter hat alles aufgehoben. Das reinste Mausoleum.« Lena blickte Steffi herausfordernd an und setzte sich an den Tisch. »Florians Oma hat auch gedacht, sie sieht Gespenster, und erst seine Uroma, die ist ziemlich ausgetickt. Sie dachte, Ulrike sei von den Toten auferstanden.«
    »Von den Toten auferstanden!«, wiederholte Steffi. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Ihr Gesicht verzog sich ärgerlich. Wenn Blicke töten könnten.
    »Seid ihr jetzt alle verrückt geworden? Zuerst Claus und nun die alte Leitner. Und du ziehst sofort diese Sachen aus!« Das hättest du wohl gerne, dachte Lena, und welcher Claus bitte schön? Bis ihr einfiel, dass Sternberg so hieß.
    Mit einer müden Geste fuhr Steffi sich übers Gesicht. Aller Ärger, alle Anspannungen verschwanden, so plötzlich, wie sie gekommen waren. Ihre Mutter wirkte mit einem Mal kraftlos und Lena fühlte sich irgendwie schuldig. Steffi ließ sich im Gartenstuhl zurückfallen. »Ich werde in alle spanischen Tageszeitungen Anzeigen setzen. Wenn Ulrike erfährt, dass sie die Hälfte vom Haus erbt, wird sie sich melden. Das Grundstück ist ein Vermögen wert.«
    Lena fiel ein, weshalb sie eigentlich hier saß, sie kramte den Camcorder aus dem Rucksack und nahm den Deckel von der Linse. »Ich will eine Dokumentation über Ulrike drehen. Was für ein Mensch sie ist, weshalb sie davongelaufen ist.«
    »Denkst du wirklich, das ist eine gute Idee?« Steffis Frage klang wie ein Seufzer und Lena, die mit viel mehr Widerstand gerechnet hatte, atmete auf.
    »Klar. Sie ist meine Tante. Optisch könnten wir sogar Zwillinge sein. Ich würde sie gerne näher kennenlernen …«
    »Das ist nur noch eine Frage der Zeit.«
    »Ich meine die siebzehnjährige Ulrike.« Lena schaltete den Camcorder ein, entschlossen, das jetzt durchzuziehen, und zentrierte das Gesicht ihrer Mutter im Display. »Habt ihr euch gut verstanden, Ulrike und du? Wart ihr eher Freundinnen als Schwestern oder mochtet ihr euch

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