Schattenkuss
damit begonnen, Omas Kleidung in Kartons zu packen, die sie heute Vormittag zum Roten Kreuz bringen wollte.
Nachdem ihre Mutter aufgelegt hatte, packte Lena den Camcorder aus. Höchste Zeit, mit der Doku weiterzumachen. »Mit wem war Ulrike eigentlich befreundet?«
Steffi winkte genervt ab. »Das ist so lange her.«
Mist, hier kam sie nicht weiter. Dann eben nicht, dachte Lena. Es gibt noch andere Quellen. Gleich nach dem Frühstück machte sie sich auf den Weg zur Buchbinderwerkstatt und es gelang ihr tatsächlich, Tante Marie einen Namen zu entlocken. Clara Brand. Sie lebte in Bad Tölz, und wenn Tante Marie sich richtig erinnerte, war sie dort mit einem Elektriker verheiratet und hieß seit etlichen Jahren Dahm.
Wieder daheim konfrontierte Lena ihre Mutter gnadenlos mit ihrem neuen Wissen.
»Du solltest Staatsanwältin werden«, erwiderte Steffi, verzog angespannt den Mund und packte einen Stapel von Omas Pullis in eine Kiste. »Ja. Gut. Clara. Wir haben einige Zeit Kontakt gehalten. Ab und zu hat sie bei mir nachgefragt, ob es Neuigkeiten gibt, und umgekehrt hätte sie mich informiert, wenn Ulrike sich bei ihr gemeldet hätte. Das nehme ich jedenfalls an.«
»Wohnt sie noch in Bad Tölz?«
Steffi nickte.
»Wie kommt man dahin?
»Mit dem Bus.« Wieder waren da diese Sorgenfalten auf Steffis Stirn. »Lena, du vergeudest deine Zeit. Willst du die Tage in Altenbrunn nicht lieber mit etwas Sinnvollem verbringen? Geh schwimmen und triff dich mit Freunden, mach irgendwas Schönes. Schließlich hast du Ferien. Oder hilf mir zur Abwechselung mal ein bisschen hier im Haus. Aber lass dieses sinnlose Graben in der Vergangenheit bleiben. Du wirst nichts herausfinden, was die Polizei oder wir nicht auch schon festgestellt hätten.«
»Dann ist es ja nicht schlimm, wenn ich weitermache.« Lena ließ die Kamera sinken und blickte ihre Mutter trotzig an. »Wann fährt der nächste Bus?«
Steffi seufzte und gab sich geschlagen. »In einer knappen Stunde.«
Wenige Minuten später hatte Lena im Telefonbuch von Bad Tölz Clara Dahms Nummer gefunden. Sie rief sie an und erklärte ihr, wer sie war und was sie von ihr wollte. »Ist es okay, wenn ich heute komme?«
Claras Stimme hatte einen spröden Klang, einen abweisenden Unterton, obwohl sie Lenas Vorschlag zustimmte. »Sagen wir um eins bei mir.« Bevor Lena antworten konnte, legte Clara auf.
Steffi war damit beschäftigt, die Kartons in Omas Auto zu packen, als Lena sich auf den Weg machte. »Bis zum Abend bin ich zurück. Und meine elektronische Hundeleine habe ich auch dabei.« Zum Beweis zog sie das Handy aus der Tasche. »Bis dann!«
Der Bus kam pünktlich und war erstaunlich gut besetzt. Beim Fahrer kaufte Lena eine Karte und suchte sich einen Fensterplatz. Stetig schlängelte sich die Straße bergab. Der Bus hielt in einigen Dörfern, nach einer halben Stunde erreichten sie Bad Tölz. Bei einer Zeitungsverkäuferin erkundigte Lena sich, wie sie zur Marktstraße kam.
Der Weg führte über eine Brücke, unter der brausend die Isar Richtung Norden floss, und weiter eine Straße entlang, die in die Fußgängerzone mündete. Diese führte gemächlich bergauf. Geschäftshäuser mit Lüftlmalerei, weit vorragenden Dächern und Blumenkästen voller Geranien reihten sich dicht an dicht. Die Schaufenster waren gefüllt mit Trachtenmoden, Haushaltsgeräten, Keramik, Schuhen, Kosmetik, Pralinen und allerlei Souvenirs. Nach kurzer Suche fand Lena die Hausnummer, nach der sie Ausschau gehalten hatte, und klingelte bei Dahm.
Einen Moment später summte es an der Tür. Lena trat ein und stieg die Treppe nach oben in die erste Etage, wo eine Wohnungstür offen stand. Lena erkannte Clara sofort. Sie war die kleine Pummelige, die auf dem Foto neben Ulrike stand. Nur waren die ehemals braunen Haare jetzt rot gefärbt und aus dem molligen Mädchen war eine dicke Frau geworden, die schwarze Trainingshosen und ein T-Shirt trug. Ihr Gesicht war rund. Ein pralles Doppelkinn ließ den Kopf halslos wirken. »Du bist also Ulrikes Nichte. Komm rein.«
Clara ging voran ins Wohnzimmer und bot Lena das Sofa an, während sie sich in einen Sessel fallen ließ. Die Einrichtung hätte Maike als Eiche brutal bezeichnet. Schweres Holz, dunkles Leder. Gelbe Butzenscheiben zierten die Schrankwand und gestickte Alpenpanoramen die Wände. Lena holte den Camcorder hervor und schaltete ihn ein. »Ich habe Ihnen ja schon erzählt, dass ich eine Dokumentation über Ulrike drehe. Ist es Ihnen recht, wenn
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