Schattenkuss
waren seine Eltern seines Wissens nach jemals gewesen, auch nicht in Lissabon und nie auf Kreta. Doch bei Aix-en-Provence rührte sich etwas in Florians Erinnerung. Er wusste im Moment nur nicht, was.
Lena und Daniel hatten ihr Eis fertig gegessen und wollten bis zum Sprungturm schwimmen, Rebecca schloss sich den beiden an. Florian blieb alleine auf dem Steg zurück. Im Seitenfach seiner Badetasche fand er einen Kuli, aber kein Papier. Kurz entschlossen faltete er ein Tempo auseinander und notierte darauf die Orte und Daten von Ulrikes Postkarten. Ihm ließ dieser Zufall mit London einfach keine Ruhe. Wenn nun auch noch Malaga zeitlich passen würde … Ja, was dann? Er hatte keine Ahnung, wollte erst mal zu Hause die Fotos ansehen, die seine Mutter nach jedem Urlaub gewissenhaft in Alben geklebt hatte.
Er verstaute Papier und Stift wieder in der Badetasche und legte sich bäuchlings auf sein Handtuch. Rebecca, Lena und Daniel hatten inzwischen den Sprungturm erreicht. Während Daniel aufs Zweimeterbrett kletterte, blieben die Mädchen im Wasser und sahen zu ihm hoch. Gleich würde sie kommen, Daniels große Show. Und trotzdem würde Lena es nicht kapieren. Armer Daniel.
Wippend stand er auf dem Brett, holte Schwung, sprang ab und legte einen perfekten Salto hin. Das Wasser spritzte kaum, als er eintauchte. Nicht schlecht. Aber auch ein noch so gelungener Salto änderte nichts daran, dass Lena einen Freund hatte. Und wenn es stimmte, was Daniel ihm erzählt hatte, dann war er ein ziemlich mieser Kerl. Setzte Lena unter Druck, mit ihm ins Bett zu gehen. Anderseits – so ernst konnte es zwischen den beiden vielleicht auch wieder nicht sein, wenn sie noch nicht miteinander geschlafen hatten.
Florian drehte sich auf den Rücken. Der Rest des Nachmittags verging mit Baden, Rumalbern und einer Runde Wasserball. Als es Abend wurde, packten sie ihre Sachen und radelten zurück ins Dorf. Daniel und Rebecca verabschiedeten sich am Dorfplatz, Lena vor dem Haus ihrer Großeltern. »Ciao und bis morgen.«
Florian räumte sein Rad in die Garage, die nassen Badesachen in die Waschküche und ging dann nach oben. Seine Mutter war nicht da. Wie meistens. Welcher Kurs war heute dran? Vielleicht der, wie man seinem Mann sagt, dass man ihn nicht mehr liebt, aber zu bequem oder zu feig ist, ihn zu verlassen.
Im Kühlschrank stand eine Auflaufform mit Lasagne. Florian legte eine Portion auf einen Teller und schob sie in die Mikrowelle. Von oben, aus dem Zimmer seiner Oma, dröhnte der Fernseher. Sicher sah sie eine dieser Seifenopern, die sie so liebte, und die Uroma schlief wahrscheinlich schon. Wenn Petra abends zu ihren Kursen ging, dann gab sie ihr meistens ein Schlafmittel ins Abendessen. Angeblich Baldrian. Benno arbeitete wahrscheinlich noch in der Schreinerei. Ein leises Bing ertönte. Die Lasagne war warm. Florian setzte sich an den Küchentisch und aß allein. Wie so oft. Familie nannte sich das. Diese tolle Familie, die Oma ständig beschwor. Dabei war sie die treibende Kraft der Zerstörung. Seit er denken konnte, stänkerte sie herum und ließ kein gutes Haar an ihm und seiner Mutter. Ins gemachte Nest hatten sie sich gesetzt. Und doch bestand sie darauf, dass Florian die Schreinerei übernahm, die sein Opa aufgebaut und die sie erhalten hatte, nachdem ihr Mann so jung gestorben war. Schreiner. Dazu hatte er ungefähr so viel Lust, wie die Sahara zu durchqueren. Nächstes Jahr machte er Abi und wollte studieren. Am liebsten Maschinenbau. Doch auch sein Vater drängte darauf, dass die Schreinerei in der Familie blieb. Florian stocherte im Essen herum. Ihm blieb noch ein Jahr. Bis dahin musste ihm etwas einfallen. Nach dem Essen stellte er den leeren Teller in den Geschirrspüler, dann ging er in sein Zimmer. Er wollte gerade den Computer einschalten, als ihm die Postkarte aus Malaga einfiel.
Säuberlich beschriftet standen die Fotoalben in der Schrankwand im Wohnzimmer. Florian blätterte sie durch, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Malaga, 3. bis 17. August 1996. Er war mit seinen Eltern tatsächlich zur selben Zeit in Malaga und in London gewesen, zu der Ulrike angeblich von diesen Orten Postkarten nach Hause geschrieben hatte. Florian verglich die restlichen Daten auf dem Taschentuch mit denen ihrer Familienurlaube und wurde noch einmal fündig. Auch Teneriffa 1999 passte. Damals war er sieben Jahre alt gewesen. Sonst fanden sich keine Übereinstimmungen. Acht Nieten, drei Treffer. Zu viele für einen
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