Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
sind verschwunden. Sie müssen in die Küche, Shinya ist ausnahmsweise vom Dienst am Kochtopf entbunden. Locker erzählt er vom Alltag eines Rikishi. „Morgens um sieben beginnt das Training in unserem Dohyo, dem hauseigenen Trainingsareal. Das endet meist nach drei Stunden. Manchmal besuchen wir andere Heya, damit wir Erfahrungen mit unbekannten Gegnern sammeln können. Danach geht's erst einmal ins Bad und dann ans Einkaufen und Kochen fürs Mittagessen.“
Shinya rutscht etwas unruhig auf seinem Sitzkissen, ihn plagt wohl schon der Hunger nach dem langen Morgen. Frühstück fällt hier grundsätzlich aus, also ist der Appetit entsprechend groß. Und wachsen sollen die Buben doch auch noch! „Nach dem üppigen Mittagsmahl schlafen wir ungefähr zwei Stunden, das sorgt auch für Pfunde.“ Er schlägt sich lachend auf seinen Bauch. Der ist noch nicht so gewaltig wie bei einigen der älteren Kämpfer. Es gibt natürlich die klassisch dicken Rikishi mit sehr starkem Übergewicht, wie den Hawaiianer Konishiki mit 285 Kilogramm, doch bei den Jungen überwiegen noch die Muskeln. Sie wirken mächtig, aber nicht fett. Unter ihnen gibt es die kleineren Kämpfer mit einer Mindestgröße von etwas über 170 Zentimetern und wahre Zwei-Meter-Riesen. Ich bin überrascht, dass ein mageres Jüngelchen ebenfalls eifrig zwischen all den Wohlgenährten trainiert, auch wenn er nicht kämpft, sondern seine Schubkraft allein an einer Holzsäule übt.
Neulinge haben es sehr schwer, die Jüngsten müssen am Nachmittag sämtliche Zimmer putzen und die älteren Mitglieder des Hauses versorgen. Sie begleiten sie bei Einkäufen oder Wettkämpfen und stehen ihnen grundsätzlich rund um die Uhr zur Verfügung. Dieses fest umrissene Kohai-Sempai-Prinzip 2 durchzieht gewöhnlich all jene Bereiche in Japan, in denen regelmäßig Jüngere nachrücken. Dies gilt also für Schule, Ausbildung, Arbeit und auch für Vereine. Die enge Bindung an erfahrene Schüler, die den Neulingen eigentlich den Einstieg in das System erleichtern sollen, wird allzu oft ausgenutzt. Körpermisshandlung und Mobbing sind die traurigen Folgen. Das Quälen von Anfängern war lange ein in Japan erschreckend weit verbreitetes Phänomen und wurde gerade in den traditionellen Sportarten von den Opfern und ihren Familien als unausweichlich hingenommen. Die grobe Behandlung sollte die Jungen fürs Leben abhärten. Mit ein wenig Geduld, so hoffte man gemeinhin, überstand man die elende Anfangsphase rasch und der vormals Gequälte wechselte erleichtert auf die Seite der Quälenden. Ein Teufelskreis, der allzu lange ohne große Proteste als Standardprozedur auf dem Weg zum Erwachsenenwerden hingenommen wurde. Als jedoch ein 17-Jähriger 2007 gemeinschaftlich in einem Heya tot geprügelt wurde, ließ die Familie des Opfers die Vertuschung der Umstände nicht mehr zu. Auch die Sumo Association griff erstmals hart durch, schloss die betroffenen Personen radikal von ihrer Liga aus. Was meint Shinya dazu? Seine Miene verschließt sich und er tut so, als er ob er meine Frage nicht versteht. Als Außenstehende im doppelten Sinn, als Frau und Ausländerin, habe ich ganz schlechte Karten, seine ehrliche Meinung zu erfahren.
Nach dem gemeinsamen Abendessen beginnt der schönste Teil des Tages: Shinya geht mit den älteren Kämpfern gerne noch auf ein nahrhaftes Glas Bier, die Jüngeren bleiben daheim. „Seit meinem zwanzigsten Geburtstag darf ich mit auf Kneipentour.“ Shinyas Augen leuchten. „Manchmal kommt der Oyakata auch mit, das ist okay. Wir reden dann ganz anders, als wenn wir daheim sind. Er ist dann viel lockerer. Aber so richtig Spaß macht es, wenn wir allein losziehen!“ Ich frage ihn, ob er eine Freundin habe. Er druckst herum und verfärbt sich zartrosa. Die jungen Rikishi haben es recht leicht, die Herzen der Mädels zu erobern. Die Älteren trifft man mit Freundin beim Abendspaziergang und am Wochenende in den Freizeitparks. Das ist erlaubt, während Selbstverständlichkeiten wie Autofahren von der Sumo-Vereinigung strikt verboten werden. Wie in vielen japanischen Studentenwohnheimen gibt es auch im Hause Minato für alle Sumo-Kämpfer ein Mongen, ein Ausgehverbot nach 22 Uhr. Daheim wartet noch ein Mitternachtssnack und dann ist der Tag für Shinya und seine Mitbewohner beendet.
Shinya lebt mit sieben weiteren Rikishi gemeinsam im Haus seines Trainers. Die Jüngeren teilen sich ein Zimmer, die älteren Ringer genießen Privilegien wie ein eigenes Zimmer und die
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