Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
Sumo-Ringer ja buchstäblich auf der Straße!“ Ungläubig starre ich auf den jungen Mann im Lendenschurz, der nur wenige Hundert Meter vom Bahnhof Ryogoku entfernt mitten auf dem schroffen Asphalt sitzt und Dehnübungen macht. Seine spärlich bekleidete Körperfülle und seine ungewöhnliche Frisur, der klassische Haarknoten der Samurai, zeichnen ihn auf den ersten Blick als waschechten Sumo-Kämpfer aus. Meine Begleitung Mariko zuckt nur lässig mit den Schultern, als wollte sie sagen: Was hast du denn erwartet? Dieses Viertel ist das Zentrum der Sumo-Welt, hier wimmelt es geradezu von Ringern.
Rikishi, wie die Sumo-Ringer auf Japanisch genannt werden, sehe ich nicht zum ersten Mal. Jahre zuvor hatte ich Karten für ein Sommerturnier der Kolosse ergattert. Damals wimmelte die Sportarena von Sendai und der umliegende Park geradezu von gewaltigen Ringern. Sorgsam gekleidet und frisiert warteten sie auf ihre wenigen Minuten Kampfeinsatz. Sie scherzten und lachten mit ihren Fans und ließen sich geduldig fotografieren. Bei ihrem Einmarsch in die Halle zum erhöhten Ring hatten sie sich wieder in hochkonzentrierte und ernste Sportler verwandelt. Noch heute erinnere ich mich an ihren Duft: ein Gemisch aus Vanille und Kokosnuss, völlig unpassend zu ihrer imposanten Erscheinung.
Hier aber in Tokyos altem Viertel herrscht keine in Vanille getauchte Festtagsstimmung, dies ist der Alltag der jungen Ringer. Und der bedeutet vor allem eins: trainieren, trainieren, trainieren. „Drinnen im Übungsraum wird wohl kein Platz mehr gewesen sein“, meint Mariko, „also haben sie den Jüngsten kurzerhand rausgeschickt.“ Dem jungen Mann, der zwischen Verkehr und Abfallsäcken seine Übungen macht, fehlt noch so ganz die Würde und Gelassenheit eines erfahrenen Kämpfers. Er wirkt an diesem Morgen schon recht erschöpft. Sein sorgsam geöltes Haar ist arg zerzaust, trotz der kühlen Luft dieses Frühlingstages rinnen ihm Schweißperlen über das Gesicht. Mit dem Rücken zur Straße kümmern ihn weder vorbeibrausende Kleinlaster noch die Horde Schulkinder, die zum Bus eilt. Stoisch wiederholt er seine Übungen, zu die ihm wohl sein „Vater“, der Meister seines Heya 1 , an diesem Morgen verdonnert hat.
Durch die geöffneten Fenster der nahen Übungshalle dringen das Stampfen nackter Füße und das Rufen des Meisters. Ryogoku ist seit der Edo-Zeit der Nabel der japanischen Sumo-Welt. Treffen wir anderswo am Vormittag Hausfrauen und Rentner beim Einkauf, sausen hier junge Rikishi auf Fahrrädern über den Bürgersteig oder drängeln sich gemeinsam mit gewöhnlichen Angestellten am Tresen von McDonald's. So sahen früher also die Japaner aus, schießt es mir durch den Kopf, als ich einem jungen Rikishi dabei zusehe, wie er umständlich sein Rad abstellt und in einem Heya verschwindet. Ich muss mich zwingen, ihm nicht hinterher zu starren.
„Ich lebe nun schon so lange Zeit in Japan“, sage ich zu Mariko, „und trotzdem überrascht mich euer Land immer wieder aufs Neue. An jeder Ecke stehen Maschinen, immerzu blinkt und piept irgendetwas. Ohne Strom läuft hier doch praktisch gar nichts mehr. Und dann komme ich nach Ryogoku und hier schlurfen und klappern die Schwergewichtler wie vor Hunderten von Jahren in Baumwollkimono und hochgestecktem Zopf unbekümmert durch die Gassen. Mariko, sag mir mal ehrlich“, wende ich mich an meine Freundin, „ist das nun Filmkulisse oder Realität?“
Mariko lächelt nur und ich bin an diesem sonnigen Frühlingsmorgen wirklich entzückt von Japan.
Sumo ist nicht einfach nur eine besondere Kategorie von Ringkampf. Sumo ist Japans heilige Kuh der Sportwelt. Nur rund 800 Aktive üben das Ringen professionell aus, doch viele Oberschulen verfügen über eine Sumo-AG. Obwohl diese einzigartige Form des Ringens heute ausdrücklich als moderner Kampfsport gelistet ist, sind seine Rituale weit über eintausend Jahre alt. Schon in den ältesten japanischen Schriften aus dem achten Jahrhundert finden sich Beschreibungen von Sumo zu Ehren shintoistischer Götter. Seine Wurzeln sind wahrscheinlich noch älter, denn schon im Altertum trug man in Korea, China und auch in der Mongolei ganz ähnliche Kämpfe aus. Professionell wird der Sport heute allein in Japan betrieben, Amateurligen finden sich jedoch weltweit. Da spielen auch Frauen kräftig mit, Weltmeisterin bei den Amateuren ist übrigens derzeit eine Deutsche. Nur in Japan selbst tut man sich mit den weiblichen Ringern schwer. Das haben die
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