Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
sagen, wie er dorthin gekommen war. Einen Moment lang hatte er den Boden unter sich gesehen, im nächsten war er wieder an Bord.
Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte er.
Aus den Augenwinkeln sah er den Steuermann, der die schmale Treppe vom Oberdeck zum Hauptdeck herunterging und auf ihn zukam. Der Mann blieb neben ihm stehen und sah hinaus auf das Land. Er war nicht dreckig, wirkte aber auf seltsame Weise schmutzig, als würde man sich am liebsten waschen, nachdem man ihm die Hand gegeben hatte.
»Das war verdammt dämlich«, sagte er und wandte sich ab. Seine Stimme war nur ein wenig verzerrt, so wie Aswigs.
»Du kannst mich sehen?«, rief Andreas ihm nach, aber der Mann beachtete ihn nicht. Irgendwie war er froh darüber.
Eine Weile wanderte er ziellos über das Deck. Der einzig offensichtliche Fluchtplan - der Sprung vom Schiff - war gescheitert, und wenn es noch andere Möglichkeiten gab, dann brauchte er jemanden, der sie ihm zeigte.
Aswig, dachte er, doch den hatte er erst einmal vergrault.
Langsam ging er an der Reling entlang in Richtung Heck. Abgesehen vom Knattern der Segel und dem Rauschen des Windes war es ruhig auf Deck. Die Männer, ob Matrosen oder Sklaven, arbeiteten schweigend. Sie wussten anscheinend, was sie zu tun hatten, denn niemand gab ihnen Anweisungen. Der einzige Offizier an Deck war der Steuermann, die anderen hielten sich wohl in ihren Kajüten oder der Offiziersmesse auf.
Wären die Umstände andere gewesen, hätte Andreas es genossen, an Bord eines fliegenden Schiffs zu sein, doch er war ein Gefangener und das Schiff verdorben von der Mastspitze bis zum Kiel.
Er blieb stehen, als er den Aufbauten des Hecks gefährlich nahe gekommen war. Dort befand sich die Kapitänskajüte, und nach allem, was er von Laura gehört hatte, sollte er ihr besser fernbleiben. Fokke ernährte sich von Seelen, so hatte sie das genannt; mehr musste und wollte Andreas nicht über ihn wissen.
Er drehte sich um und zuckte zusammen, als er die Gestalt vor sich sah. Aus kalten blaugrauen Augen starrte sie ihn an.
»Elias?«, flüsterte Andreas.
Das Gesicht war verzerrt, eine hässliche, von Leid und Hass gezeichnete Fratze, die kaum noch zu erkennen war. Doch Andreas war sich sicher, dass Elias Fisher, sein ehemaliger Flugkapitän, vor ihm stand. Kurz nach dem Absturz war er gestorben. Hinter ihm tauchten weitere graue Gestalten auf. Manche von ihnen kannte Andreas, die meisten waren ihm jedoch fremd.
»Elias?«, fragte er noch einmal.
Die Seele, die einmal Fisher gewesen war, musterte ihn. »Warum bist du anders?«
Andreas wich unwillkürlich zurück. »Erkennst du mich nicht?«
»Ich erkenne, wie stark du bist und wie warm. Warum ist das so?«
Die anderen Seelen rückten näher. Sie waren nicht nur grau, so wie die Menschen, die Andreas auf dem Schiff wahrnahm, sondern durchzogen von schwarzen, venenartigen Fäden und dunklen Flecken, so als würden sie von einer fremden Macht heimgesucht. Manche, diejenigen, deren Gesichter kaum verzerrt waren, zeigten nur wenig von dieser - Andreas fiel nur das Wort Fäulnis ein, doch andere, so wie Fisher, waren komplett von ihr durchsetzt.
Er antwortete nicht auf Fishers Frage, sondern wich vor ihm zurück, bis er die Reling im Rücken spürte. Der ältere Mann mit dem schütteren Haar und dem freundlichen, ruhigen Wesen war einst eine Art Ersatzvater für Andreas gewesen, doch nun hatte er Angst vor dessen Seele.
»Warum bist du so warm?«, schrie Fisher plötzlich.
Ein Matrose, der keinen Meter von ihm entfernt eine Kiste reparierte, schlug sich mit dem Hammer auf die Hand und schrie auf. Die Seelen beachteten ihn nicht.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Andreas.
Immer näher rückten die Seelen. Eine streckte ihre Hand nach ihm aus, aber Fisher schlug sie zur Seite.
»Halt dich zurück«, sagte er mit drohendem Unterton, »und tue, was ich sage.«
Fisher schien eine besondere Stellung unter den Seelen einzunehmen. Sie versammelten sich hinter ihm und hörten auf seine Befehle. Die Seele, die er zurechtgewiesen hatte - eine junge Menschenfrau zog sich zurück.
Wenn er sich nur erinnern würde ..., dachte Andreas. Er versuchte es noch einmal. »Elias, sieh mich an! Denk nach! Du kennst mich. Mein Name ist Andreas Sutter, wir sind Freunde und Kollegen. Du sitzt links neben mir im Cockpit, und du trinkst deinen Kaffee mit Milch, nie mit Zucker. Du bist Kapitän Elias Fisher. Elias Fisher.«
Noch dreimal wiederholte er den Namen. Es klang fast wie
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