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Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Titel: Schattenlord 6 - Der gläserne Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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Kiste lagen. An seine Mutter konnte er sich nicht erinnern, sie war bei der Geburt gestorben. Sein Vater, der vor dem Schreibtisch der Psychiaterin auf einem Stuhl saß und nervös mit den Fingern auf den Oberschenkel trommelte, war der einzige Mensch, den er hatte.
    Der Teppich war rau und kratzte auf der Haut, wenn er mit seinen nackten Knien darüber rutschte. Es war Hochsommer. Am Morgen hatte sein Vater ihn mit Shorts und T-Shirt auf den Spielplatz mitnehmen wollen, aber Andreas hatte so lange geschrien und um sich geschlagen, bis er seine Winterjacke hatte anziehen dürfen. Er schwitzte darunter, doch sie war wie eine Rüstung gegen die Geister, die ihn verfolgten. Wenn er sie trug, schwiegen sie - meist jedenfalls.
    In der Praxis von Dr. Kaufmann schwiegen sie auch. Sie hatte Andreas bei seinem ersten Besuch die Geisterstummtaste unter ihrem Schreibtisch gezeigt. Andreas hängte seine Winterjacke zwar immer in dem Büro auf und nicht draußen im Wartezimmer, aber gebraucht hatte er sie noch nie.
    Hinter ihm redeten die Erwachsenen.
    »Er ist also verrückt.« Der hessische Dialekt seines Vaters kam deutlich heraus, so wie immer, wenn er mit seinen Gefühlen kämpfte, sie aber nicht zeigen wollte.
    »Dieses Wort sollten Sie nicht verwenden, Herr Schmitt. Es schadet Ihrem Sohn, und es schadet auch Ihnen.«
    »Aber so ist es doch.«
    Andreas baute ein Flugzeug. Er liebte alles, was flog: Vögel, Dinosaurier, doch am meisten liebte er Maschinen, die fliegen konnten. Wenn man ihn fragte, was er werden wollte, dann sagte er: »Ein Flugzeug.« Die Erwachsenen korrigierten ihn dann immer, weil sie glaubten, er wolle Pilot werden, aber das stimmte nicht. Er wollte ein Flugzeug sein, eine Maschine, die hoch über den Wolken kreiste und niemals landete. Maschinen hörten keine Geister, und sie hatten niemals Angst, so wie Andreas, wenn sein Vater nachts in sein Zimmer kam und nach Alkohol roch. Dann stellte er sich vor, er wäre ein Flugzeug. Er schwebte über seinem Körper, und nichts, was dort unten geschah, tat ihm weh.
    »Ich will Ihnen nichts vormachen«, sagte Doktor Kaufmann. »Das ist eine schwere Störung, und ich vermute, es ist nicht die einzige, unter der Ihr Sohn leidet. Aber sie ist behandelbar.«
    »Mit Psychopharmaka.«
    »Und einer Gesprächstherapie. Ich möchte, dass Ihr Sohn zweimal die Woche zu mir kommt. Er ist sehr jung, sein Gehirn ist noch im Aufbau. Mit ein wenig Glück wird diese Störung von selbst verschwinden, wenn er in die Pubertät kommt. Bis dahin sollten Sie und ich Ihrem Sohn helfen, damit zurechtzukommen.«
    Sein Körper stürzte und rollte einen Abhang hinunter. Er sah die Wunden, die ihm Dornen und Zweige rissen, spürte sie jedoch nicht. Da war ein Teil in seinem Geist, der schmerzte und darum bettelte, liegen bleiben zu dürfen. Andreas nannte diesen Teil den Versager. Er war an allem schuld, was in seinem Leben schiefgelaufen war, und hatte es nicht verdient, dass man ihm zuhörte.
    »Lass mich mit deinen verdammten Geistern in Ruhe!«
    Andreas stand vor dem Bett seines Vaters, die Finger ineinander verschränkt und barfuß. Der Dielenboden war kalt, durch das offene Fenster hörte Andreas die Autos, die über eine regennasse Straße fuhren.
    »Sie lassen mich nicht schlafen«, sagte er. Tränen standen ihm in den Augen. »Kann ich meine Jacke haben?«
    »Nein.« Seit sein Vater gesehen hatte, dass Andreas die Jacke nachts im Bett trug, schloss er sie abends im Kleiderschrank ein. »Geh in dein Zimmer.«
    Eine halb leere Flasche Korn stand auf dem Nachttisch, der Aschenbecher daneben quoll über. Der Fernseher lief ohne Ton und zeigte eine Talkshow, in der Menschen redeten, die Andreas nicht kannte.
    »Kann ich nicht bei dir schlafen?« Er zeigte auf die leere Seite des Doppelbetts.
    »Wo deine Mutter früher lag?« Sein Vater zog die Silben zusammen. Er lallte nicht, wenn er betrunken war, aber alle Worte flossen ineinander. »Du hast sie aus meinem Leben gestoßen, du wirst sie nicht auch noch aus meinem Bett vertreiben.«
    Er setzte sich auf. Zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger hing eine nicht angezündete Zigarette. »In einem See aus Blut wurdest du geboren. Ich stand daneben, als sie starb und du aus ihr rausgekrochen bist wie ein verdammtes Monster. Du hast sie umgebracht, du bist schuld!« Er schrie die letzten Worte.
    Andreas spürte, wie warmer Urin an der Innenseite seiner Schlafanzughose entlangrann und auf den Boden tropfte. Als sein Vater das sah, schlug er

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