Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
keinen Göttern.«
»Sehr schade, selbst wenn das meine Theorie bestätigt. Die Götter haben sich aus der Welt zurückgezogen. Wo ist es denn? Ah, hier.«
Er zog ein Buch aus dem Regal und legte es vorsichtig auf den Tisch, der zwischen seinem Stuhl und dem Sofa stand. »Wie heißt der Dolch, den ihr sucht?«
»Girne«, sagte Finn.
Mo-Gabursy schlug das Buch auf. Die Seiten klirrten, wenn er sie umblätterte. Sie waren voller Zeichnungen und seltsamer Symbole. Der Priester kniff beim Lesen die Augen zusammen, und Finn grinste unwillkürlich, als ihm klar wurde, dass es in einer Stadt aus Glas anscheinend keine Brillen gab.
Das ganze Buch blätterte Mo-Gabursy durch, bevor er den Blick hob und den Kopf schüttelte. »Tut mir leid, ich finde nichts über diesen Dolch.«
»Verdammt!« Milt verzog das Gesicht.
»Aber«, fuhr der Priester fort, »wie ihr wisst, studiere ich die Götter, ihre Taten und ihre Lehren. Wenn die Götter den Dolch nach Amarihye gebracht hätten, wäre es in diesem Buch verzeichnet, aber wenn es ein niederes Wesen war ...« Er ließ den Satz unvollendet.
Finn beugte sich vor. »Und an wen könnten wir uns in diesem Fall wenden?«
»An einen Wahrsager.« Der Priester schnippte mit den Fingern, als käme ihm plötzlich eine Idee. »Genauer gesagt an eine Wahrsagerin. Ich sollte sie eigentlich nicht empfehlen, weil es unseren Lehren widerspricht, den Willen der Götter infrage zu stellen, und dass der Dolch verschwunden ist, gehört dazu, aber da ihr fremd hier seid und höchst wahrscheinlich anderen Lehren folgt ...« Er unterbrach sich. »Das tut ihr doch, oder?«
»Ja«, antwortete Finn ungeduldig.
»Wie ist ihr Name, und wo finden wir sie?«, hakte Milt nach.
»Ihr Name ist Rees, und sie lebt auf der nullten Ebene. Es wird nicht schwierig sein, sie zu finden. Außer ihr gibt es dort niemanden.«
Mo-Gabursy führte sie nach draußen und erklärte den Weg. Dann verabschiedeten sich Finn und Milt von ihm.
Die nullte Ebene, die Stadt unter der Stadt, in der kein Krii bei Verstand leben würde, so hatte der Priester sich ausgedrückt, befand sich in der Lücke zwischen dem Glasboden von Amarihye und dem Wüstensand. Der Weg dorthin führte über Brücken und schmale Stege. Der letzte endete schließlich an einer unverschlossenen Falltür, unter der eine Glasleiter bis zum Boden führte.
Finn brachte die letzte Stufe hinter sich und sprang in den Sand. Milt folgte ihm. Auf den ersten Blick schien es dort unten nichts zu geben außer gläsernen Stelzen, so breit und hoch wie Elefanten, und Sand. Die Melodie der Stadt war kaum noch zu hören.
»Rees?«, rief Finn. »Mo-Gabursy schickt uns. Wir haben eine Bitte an dich.«
Milt ging ein paar Schritte zur Seite und sah sich um. »Dahinten liegen eine Decke und irgendwelches Zeug«, sagte er.
Nun sah auch Finn, was er meinte. Im Sand standen ein Glastisch, dessen Oberfläche gesprungen war, eine gläserne Kiste, in der Gegenstände lagen, und eine scheinbar achtlos hingeworfene Decke.
»Hallo!«, rief Finn. »Ist hier jemand? Wir sind harmlos. Wir haben nur eine Bitte.«
»Wir sind harmlos?« Milt sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Meinst du, irgendjemand glaubt so einen Spruch?«
»Aber wir sind harmlos. Ein bisschen Ehrlichkeit wird doch wohl nicht schaden. Außer ...«
Er machte einen Satz zurück, als die Decke vor ihm sich plötzlich bewegte. Eine Gestalt kroch aus dem Sand, warf die Decke zur Seite und stand auf. Milt wich ebenfalls zurück, sah sich bereits nach einer Waffe um.
Die Gestalt schüttelte Sand aus den braunen, verdreckten Lumpen, die sie trug. Es war eine Krii, alt und so mager, dass ihr Anblick beinahe wehtat. Trübe blaue Augen musterten Finn.
»Sand und Glas, Glas und Sand«, sagte die Krii. »Das eine ist rein, das andere der Sonne zu nahe gekommen und verbrannt. Seine Transparenz ist unsere Verderbnis. Nur der Sand ist rein.«
In Milts Gesichtsausdruck las Finn den gleichen Gedanken, den er auch in diesem Moment hatte. Die hat sie nicht mehr alle.
»Ich bin Rees.« Die alte Krii klopfte den letzten Sand aus ihren Lumpen. »Was wollt ihr?«
»Eigentlich nichts.« Finn winkte ab. Er glaubte nicht, dass eine Verrückte ihnen helfen konnte. »Hat sich erledigt.«
Sie ging nicht darauf ein. »Wenn Gabursy euch zu mir schickt, muss es wichtig sein. Setzt euch. Redet.«
Wie ein Vogel hockte sie sich in den Sand. Sie war die Erste in ganz Amarihye, die sich nicht darüber zu wundern schien, dass Fremde in
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