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Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Titel: Schattenlord 6 - Der gläserne Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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in den Erinnerungen nicht. Er wünschte sich, er hätte noch einmal mit den anderen reden können, um sich zu entschuldigen und zu verabschieden. Doch dazu würde es nur kommen, wenn er diesen Ort verlassen konnte.
    Und ob das möglich ist, werde ich nicht herausfinden, solange ich hier herumstehe und mit Hubert diskutiere, dachte er.
    Trotzdem fiel es ihm schwer, den alten Mann zurückzulassen. Seine Krankheit hatte sein Verantwortungsgefühl zwar bis ins Groteske übersteigert, doch der Drang, sich um andere zu kümmern und ihre Probleme zu seinen eigenen zu machen, war ein Teil seiner Persönlichkeit - im Leben wie im Tod.
    Hubert beachtete ihn nicht, als Andreas den halb leeren Frachtraum verließ. Leise murmelte er vor sich hin, so als unterhielte er sich mit einem unsichtbaren Gesprächspartner. So war es wohl auch. Die Vorstellung, mit der verdorbenen Stimme des Schiffs reden zu müssen, jagte Andreas einen Schauer über den Rücken.
    Er streckte die Hand nach dem Strick aus, mit dem die schwere Holztür des Frachtraums gesichert war, doch dann ließ er sie sinken und trat einfach hindurch in den Gang, der dahinter lag. Es war desorientierend, nichts dabei zu fühlen, keinen Widerstand, nicht einmal ein Kitzeln.
    Irgendwie cool, dachte er. Wenn er nicht verzweifeln wollte, musste er seiner neuen Existenz irgendwelche positiven Seiten abgewinnen.
    Der Gang, den er durch den Nebel sah, wirkte grau und unscharf, so als habe jemand einen Filter darübergelegt. Andreas sah Eimer mit Sand an einigen Balken hängen, mehr nicht. Er hob den Kopf, fragte sich, ob er wohl einfach durch die Decke schweben würde, wenn er sich darauf konzentrierte, aber als er das versuchte, blieb er einfach auf dem Boden stehen.
    Vielleicht, wenn ich hochspringe?, dachte er.
    Er sprang einmal, dann zweimal, beim dritten Mal streckte er sogar die Arme nach oben aus wie Superman. Nichts.
    »Was machst du da?«
    Andreas zuckte zusammen. Auf der Treppe, die nach oben zum nächsten Deck führte, stand ein Junge und starrte ihn an.
    »Nichts«, sagte Andreas spontan. Die Wahrheit war ihm zu peinlich.
    Der Junge kam die letzten Stufen herunter, hielt sich aber mit der Hand weiter am Geländer fest, als sei er bereit zur Flucht, sollte das notwendig werden. Andreas schätzte ihn auf höchstens vierzehn Jahre. Er war klein, vielleicht einen Meter sechzig, mager und blass. In seiner grauen Welt konnte Andreas weder die Farbe seiner Augen noch die seiner verfilzten Haare erkennen, sah nur, dass der Junge zerlumpt war und ausgelatschte Schuhe trug.
    »Du bist neu hier.« Die Stimme des Jungen klang verzerrt, aber Andreas konnte sie besser verstehen als die Rufe, die er auf Deck gehört hatte.
    »Gerade erst gestorben.« Es sollte ein Witz sein, aber der Junge lachte nicht. »Also ja«, fügte Andreas hinzu. »Ich bin neu hier.«
    »Seltsam.« Der Junge musterte ihn wie ein seltenes Tier. »Du bist nicht wie die anderen. Du bist ...« Er suchte nach dem richtigen Wort. »... wirklicher. Wie heißt du?«
    »Andreas.«
    »Du kennst deinen Namen?« Der Junge schien das kaum glauben zu können.
    »Du deinen etwa nicht?«, fragte Andreas zurück.
    »Natürlich, aber ich bin ja auch nicht tot.«
    Dem Argument hatte er nichts entgegenzusetzen. »Und wie heißt du?«
    »Geht dich nichts an.« Der Junge verschränkte die Arme vor der Brust. Wie einen Schild trug er seine störrische Unhöflichkeit vor sich her. Andreas täuschte er damit nicht. Er kannte all die Verteidigungsmechanismen, die man als Kind aufbaute, um in einer feindlichen Umgebung überleben zu können.
    »Kann ich mit jedem hier an Bord so reden wie mit dir?«, fragte er.
    »Glaub’ ich nicht.«
    »Schade.«
    Der Junge runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
    »Wenn ich schon tot bin, möchte ich meine Zeit wenigstens mit jemandem verbringen, der ein bisschen nett ist und mich nicht anschnauzt, wenn ich ihn nach seinem Namen frage.«
    »Wenn du nette Gesellschaft willst, hättest du nicht so blöd sein sollen, in der Nähe des Seelenfängers zu sterben.«
    Andreas neigte den Kopf. »Siehst du, genau das meine ich.« Er wandte sich von dem Jungen ab und ging langsam auf den Frachtraum zu. »Unter diesen Umständen verbringe ich meine Zeit lieber allein. Du kannst dann zwar nicht herausfinden, warum ich anders bin als die Seelen, die sonst hierherkommen, und ich werde deinen Namen nie erfahren, aber wenigstens habe ich dahinten meine Ruhe.«
    Nur noch zwei Schritte war er von der Tür

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