Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
sich auf seine Hängematte und schaukelte hin und her. Ein kleiner Seesack lag darunter, gerade so groß, dass ein wenig Kleidung hineinpasste. Mehr schien der Junge nicht zu besitzen.
»Ihr seid zwar hier«, fuhr er fort, »aber auch irgendwie nicht. Das ist schwer zu erklären.«
Andreas lehnte sich ihm gegenüber an einen Balken. Irgendwo in dem fast leeren Mannschaftsquartier schnarchte jemand, wahrscheinlich eine Nachtwache. Es klang so verzerrt, dass es Andreas schwerfiel, das Geräusch zu identifizieren. Er erklärte Aswig, wie er nach seinem Tod die Welt sah.
»Alles ist grau und trüb. Die Geräusche sind verzerrt, ich kann die Stimmen der Lebenden kaum verstehen. Nur deine höre ich sehr gut.«
Aswig nickte. »Das meine ich. Du bist nicht im Diesseits, aber auch nicht im Jenseits. Deine Seele ist zwischen den Welten gefangen.«
Andreas sah sich kurz um. Es war niemand hinzugekommen. Das Mannschaftsquartier war so leer wie zuvor.
»Und wie komme ich hier raus?«, fragte er leise. »Ist mir egal, ob meine Seele im Diesseits oder Jenseits landet, Hauptsache, ich komme runter von diesem Schiff.«
Aswig stoppte die Bewegung der Hängematte mit seinem Fuß. »Hab’ mich schon gewundert, warum du so nett zu mir bist«, sagte er. »Jetzt weiß ich es.«
Seine Worte klangen verbittert. Er stand auf und ging durch Andreas’ Körper zur Tür. Der wollte ihn aufhalten, doch seine Hände griffen ins Nichts.
»Warte«, rief er dem Jungen nach. »So habe ich das nicht gemeint. Es war doch nur eine Frage.«
Aswig drehte sich zu ihm um. »Ich bin keine Ratte, die ihren Käpt’n und ihre Kameraden verrät. Hau ab zu den anderen Seelen und lass mich in Ruhe.«
Er stürmte die Treppe hinauf, Andreas folgte ihm nicht.
Verdammt, dachte er. Einen Freund gewonnen und direkt wieder verloren.
Es tat ihm leid, dass er den Jungen so vor den Kopf gestoßen hatte. Wenn er nur einen Moment über seine Worte nachgedacht hätte, wäre ihm wohl klar geworden, wie er sie auffassen musste. Doch das hatte er nicht getan.
Verdammt, wiederholte er in Gedanken, dann verließ er das Mannschaftsquartier und stieg ebenfalls die steile Treppe zum Hauptdeck hinauf. Durch die geschlossene Tür trat er unter freien Himmel - und wich direkt wieder zurück, als ein Matrose an ihm vorbeilief, ohne ihn zu bemerken. Für ihn schien Andreas tatsächlich unsichtbar zu sein.
Auch die anderen Männer an Deck reagierten nicht. Einige hingen in der Takelage, andere saßen auf den Planken und reparierten Segel. Eine dunkelgraue, untergehende Sonne hing über einem bleiernen Horizont. Es wurde dunkel. Andreas ging zwischen den Männern hindurch und betrachtete sie mit einem mulmigen Gefühl, rechnete damit, dass jeden Moment einer aufspringen und auf ihn zeigen würde. Doch die Matrosen waren in ihre Arbeit vertieft. Nur ab und zu erschauerte einer oder zog seine Jacke zusammen, als sei ihm plötzlich kalt.
Andreas sah nur Männer an Deck. Die meisten waren übergewichtige, stämmige Kerle, die so aussahen, als gingen sie keinem Streit aus dem Weg. Einige wirkten kaum noch menschlich, hatten Kiemen unterhalb der Wangen oder grünliche Amphibienhaut. In Lumpen gehüllte Sklaven, die seltsame goldene Armreifen trugen, hockten auf den Knien und schrubbten das Deck. Andreas erkannte vieles aus den Erzählungen von Laura und den anderen wieder, nur die bedrückende, unheilvolle Atmosphäre hatten sie ihm nicht vermitteln können. Stramm gezogene schwarze Segel blähten sich über Andreas. Die Verzierungen und geschnitzten Muster im Holz der Balken und der Reling wirkten düster. Das schwarze Schiff war unheimlich, aber sauber und gut geführt. Der Mann, der es kommandierte, wusste offensichtlich, was er tat.
Aswig sah Andreas nicht, obwohl er nach ihm suchte. Auf dem Hauptdeck war er nirgends zu finden. Andreas ging zur Reling und warf einen Blick über das graue, verschwommene Land.
Ob ich einfach hinunterspringen kann?, fragte er sich. Er legte die Hände auf die Reling. Berühren konnte er sie, er spürte sogar das raue Holz unter seinen Fingern. Nach kurzem Zögern stemmte er sich hoch und schwang die Beine über die Reling. Niemand rief eine Warnung, niemand sagte etwas. Nur der Steuermann, ein dicker, düster wirkender Mann, der hinter dem großen Holzrad auf dem Oberdeck stand, schien in seine Richtung zu blicken.
Auch egal, dachte Andreas und sprang.
Einen Lidschlag später stand er an der Reling und legte die Hände darauf. Er konnte nicht
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