Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
kalt?«
Andreas fuhr herum, als er die Stimme hörte. In dem grauen Nebel bewegte sich ein Schemen, nahm Gestalt an und wurde zu ...
»Hubert?«, fragte Andreas.
»Ich will wissen, warum es so kalt ist. Sag es mir doch!« Sein Körper war transparent, Andreas konnte den Schiffsrumpf dahinter sehen, aber es war eindeutig Hubert Mertens, der Professor, der sich selbst aufgegeben hatte und daran gestorben war.
Und ich wollte so sein wie er, dachte Andreas. Mann, war ich kaputt.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Mir ist nicht kalt.«
Hubert rieb sich zitternd die Oberarme. Im Tod wirkte er kleiner und dünner als im Leben. Andreas sah sich suchend zwischen einigen festgezurrten Kisten und Fässern um, fand eine Decke und griff danach, um sie Hubert zu geben. Seine Hand ging hindurch.
Okay, dachte er. Daran muss ich mich erst mal gewöhnen.
Es war seltsam, denn obwohl er nichts anfassen oder tragen konnte, spürte er das langsam schaukelnde Deck des Seelenfängers unter seinen Füßen. Vielleicht war das aber auch nur eine Illusion seines Verstandes, der versuchte, seiner körperlosen Existenz Halt zu geben.
Hubert hockte sich auf das Deck. Er zitterte, seine Zähne klapperten.
»Weißt du, wer du bist?«, fragte Andreas. Wie er angenommen hatte, schüttelte Hubert den Kopf.
»Weißt du, wo du bist?« Wieder ein Kopfschütteln. Laura hatte erzählt, dass die Seelen an Bord des Fliegenden Holländers Verlorene waren, die sich selbst nicht mehr kannten und früher oder später der Dunkelheit verfielen. Bis zu diesem Moment hatte er nicht verstanden, was das bedeutete.
»Warum ist dir nicht kalt?«, fragte Hubert leise. Neid gab seiner Stimme einen schneidenden Klang.
»Keine Ahnung.« Andreas war mit den Gedanken bereits woanders. Huberts Anwesenheit bewies, dass die Iolair recht gehabt hatten. Sein Tod hatte den Seelenfänger angezogen. Hubert und nun auch Andreas hatten unbeabsichtigt die ganze Siedlung in Gefahr gebracht. Doch die magischen Barrieren und Verschleierungszauber der Iolair schienen gewirkt zu haben, denn das Schiff hatte abgedreht.
Hubert legte den Kopf schräg. »Hörst du dieses Flüstern?«, fragte er. »Was ist das?«
Andreas lauschte. Im ersten Moment wollte er die Frage verneinen, doch dann hörte er eine seltsam zischende Stimme. Etwas Schmutziges, Verdorbenes lag in ihr. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber der Klang allein reichte aus, um ihn vor ihr zurückschrecken zu lassen. Sie war überall, kam aus den Planken des Schiffs, aus der Luft, bedeckte alles wie dunkler, hässlicher Schimmel.
»Kannst du verstehen, was sie sagt?«, fragte er.
Hubert zögerte, als wisse er nicht genau, wie er das, was er hörte, in Worte fassen sollte. »Sie lockt mich. Ich spüre sie auf meiner Seele, wie sie mich berührt und ...«
»Lass das nicht zu!«, unterbrach Andreas ihn rasch. Er erinnerte sich an etwas, das Laura erzählt hatte. »Das ist die Stimme des Schiffs. Es wird deine Seele verderben, wenn du dich nicht wehrst.«
Hubert nickte, aber sein Blick war in die Ferne gerichtet, sein Gesichtsausdruck entrückt. Er lauschte.
Andreas war mit einem Schritt bei ihm, packte ihn an den Armen. Er hatte damit gerechnet, durch den Geistkörper des alten Mannes ins Nichts zu greifen, aber er konnte ihn berühren und schütteln.
»Hör mir zu, Hubert, nicht der Stimme. Wehr dich gegen sie!«
Hubert ließ sich schütteln. Er fühlte sich so leicht und zerbrechlich an, als bestünde er aus dünnem Porzellan. Schweigend hing er in Andreas’ Griff.
»Hörst du mich, Hubert?«
Er drang nicht zu dem alten Mann durch. Bereits im Leben hatte Hubert sich aufgegeben, im Tod schien er das Gleiche zu tun. Es schien ihn nicht einmal zu interessieren, dass er seinen Namen vergessen hatte und nicht wusste, wo er sich aufhielt.
Aber warum sehe ich alles so klar?, fragte sich Andreas. Wir sind beide Seelen, wieso sind wir so unterschiedlich?
Er ließ Hubert los. Der alte Mann schien das nicht einmal zu bemerken. Zitternd vor Kälte und mit schräg gelegtem Kopf stand er da, lauschte den Worten, die Andreas nicht verstehen konnte.
Zögernd wandte er sich ab. Es gab so viele Dinge, die er sich nicht erklären konnte. Die Unterschiede zwischen ihm und Hubert, die plötzliche Klarheit seiner Gedanken, das Verschwinden der Krankheit. Er konnte sich an alles erinnern, was in den Tagen zuvor geschehen war, während sein Geist mit dem Dämon gerungen hatte, doch Erklärungen für seinen Zustand fand er
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