Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
nach einer durchzechten Nacht und seine Erinnerung ließ ihn gänzlich im Stich. War etwas passiert gestern Abend? Was war überhaupt gestern Abend? Er schüttelte vorsichtig den Kopf, der Schmerz nahm zu. Er hatte geschlafen wie narkotisiert. Er schob die Decke mit dem zerknautschen Laken zur Seite. Ihm fiel ein kleiner Blutfleck auf der weißen Baumwolle auf. Sein Blick glitt zur Seite, zu seinem linken Oberarm, wo er eine winzige Wunde wie von einem zerkratzten Pickel bemerkte. Er nahm sie nicht als sonderlich beachtenswert wahr, strich mit dem Finger der anderen Hand darüber und vergaß sie gleich wieder.
Ein Pickel eben.
Martin verließ das Zimmer und ging zu dem Waschbecken. Er drehte den Hahn auf, er quietschte. Eiskaltes Wasser platschte in sein Gesicht. Er massierte sich den Nacken und allmählich ließ der Scherz nach, die Erinnerungslücke an den Abend blieb.
Es war auch nicht wichtig, was gewesen war, wichtig war, was vor ihm lag. Seine Probleme zu managen, das war wichtig. Wie sollte er die nächsten Tage, Wochen überstehen? Kurz bevor er eingeschlafen war, war ihm der Gedanke gekommen, die Maske noch eine Weile zu behalten, sie zu seinem treuen Begleiter zu machen, falls Jerome sie ihm überlassen würde. Er vertrug sie gut, solange er nicht schwitzte, er duldete den strengen Geruch, den er nicht kannte und den er dem Latex oder Silikon zuschrieb. Er widerstand dem Drang, sich zu kratzen, wenn sie juckte, ein Material, das alles andere als atmungsaktiv war. Doch zum Überleben würde sie ihm gute Dienste leisten. Er würde sich als Norbert Wagner, der neue Besitzer der Wohnung im Prätoriusweg 17, in Hamburg Eimsbüttel vorstellen. Seine betagte Untermieterin Frau Carstens würde er täuschen können wie alle anderen im Haus auch. Der Vorbesitzer, ein gewisser Martin Pohlmann, hatte eine andere Frisur, einen hässlichen Schnurrbart und ein anderes Gesicht gehabt. Eine Stimme zu verstellen, war nicht schwer. Figürlich sahen sie sich ähnlich, das war auch schon alles und kam sicher oft vor. Kein Grund zum Argwohn.
Er stellte sich vor, wie es wäre, sich als Besucher im Krankenhaus nach Catherine zu erkundigen, vielleicht einen Blick von ihr zu erhaschen, wenn er das Zimmer betreten, sich entschuldigen und wieder gehen würde. Nur um nachzusehen, wie es ihr ginge, mehr wollte er nicht.
Er könnte sich sogar mit Werner treffen, wenn er es geschickt anstellen würde. Ein Penner am Straßenrand, dem ein paar Cent in den Hut geworfen wurden und dem man einige ermutigende Worte mitgab, ein Geschäftsmann mit Sonnenbrille in feinem Zwirn, ein Tourist mit einem Stadtplan in der Hand, der Werner ganz beiläufig nach dem Weg zum Hafen oder zum Bahnhof fragte. Was könnte man nicht alles mit einem neuen Gesicht anstellen? Den alten Schöller bespitzeln oder, und dieser Gedanke schien ihm der verwegenste zu sein, sich bei den Bilderbergern einzuschleusen.
Martin zog das weiße Hemd an, streifte Hose und Jacke über und ging hinunter. Es duftete nach Kaffee und in der Küche wurde er bereits von Sokolow und Jerome erwartet.
»Na, Schlafmütze!«, prustete ihm Jerome mit vollem Mund entgegen. Er trug keine Maske, hielt eine Art Brötchen in der Hand und schien bester Laune zu sein. Vorbei die Depression, der Kummer und die trüben Erinnerungen an dunkle Gesellen, die in der Einsamkeit lauerten.
»Wie spät ist es?«
Sokolow antwortete: »Nach neun. Ich wollte Sie gegen sieben wecken lassen, aber Sie haben noch tief und fest geschlafen, da wollt’ ich Sie nicht stören. Ihr Flugzeug geht erst gegen zwölf. Sie haben keine Eile.« Sokolow hielt eine weiße Keramikkanne hoch.
»Kaffee?«
Martin nickte.
»Ich habe tatsächlich geschlafen wie ein Stein. Merkwürdig. Ich kann mich an nichts erinnern von gestern Abend. Totaler Filmriss. Als hätte ich irgendwelche Drogen genommen.«
»Das kommt aber nicht von meinem Borschtsch, das kann ich Ihnen versichern.«
»Schade, dass wir gestern nicht mehr sprechen konnten. Wie soll es denn jetzt weitergehen? Wir sind der Lösung der Probleme kein Stück näher gekommen.«
Martin sah Sokolow erwartungsvoll an, während er an dem heißen Kaffee nippte.
»Nicht ganz. Jerome und ich sind bereits übereingekommen, wie Sie es anstellen sollten.«
»Ach, mit Jerome? Wäre schön, wenn Sie vielleicht zuerst mit mir darüber sprechen würden. Ich nehme nicht gerne irgendwelche Anweisungen entgegen.«
»Nun seien Sie nicht gleich so eingeschnappt. Jerome hatte eine
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