Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
diesen Trick kommen, doch dass er derjenige war, der dahintersteckte und Verwirrung stiftete, war sicher nicht nachzuvollziehen. Häuser wie dieses gab es in jeder großen Stadt. Er schloss sich ans Stromnetz an, drückte irgendeiner Fabrik aus der Nachbarschaft die Kosten aufs Auge und harrte aus, so lange wie es ging. Er wohnte wie eine Milbe in flauschigen Daunen, als Untermieter des Staates, des E-Werkes und anderer Dienstleister.
Doch ›wohnen‹ konnte man diesen Zustand eher nicht nennen. Dieser Begriff würde auf geordnete Verhältnisse zutreffen: Wohnzimmer, Schlafzimmer, ein paar nette Bilder an der Wand, einige Wohn-Accessoires, Küche, Bad mit Wanne, wenigstens Dusche. All das war in dieser Form bei Jerome nicht vorhanden. Natürlich hatte er Gelegenheiten zum Waschen, Kochen und Schlafen, aber anders als die meisten und als derjenige, den er in Bälde zu treffen gedachte.
Aus Mangel an Konzentrationsfähigkeit entschloss er sich, bei dem Namen zu bleiben, den er Pohlmann am Telefon gesagt hatte. Das Bild des echten Jerome hing wie die anderen fünf Vorbilder an der Wand neben dem Tisch. Er zog eine Schublade mit der Aufschrift ›JEROME‹ hervor und entnahm die Utensilien, die ihn in nur wenigen Minuten verwandeln würden.
Kapitel 6
März 2010, Hamburg
Der Porsche Cayenne hielt an. Sekundenlang verharrte der Wagen im Stillstand. Die Fahrer stritten miteinander.
»Was soll der Scheiß? Wieso ist die Brücke gesperrt?«, begann der Mann, den sie Carlos nannten.
»Was weiß ich? Warum muss es denn ausgerechnet diese Scheiß- Brücke sein?«
»Mann, bist du dämlich. Weil sie hoch genug sein muss, um auf der Wasserfläche wie ein Stein aufzuschlagen. Weil keine Sau so einen Sturz überlebt. Das ist die Brücke für Selbstmord in Hamburg, Mann.«
»Und jetzt?«
Carlos zögerte. »Scheiß drauf. Dann müssen wir ihn eben woanders runterschmeißen. Es wird doch hier in diesem bescheuerten Hafen noch andere Brücken geben.« Der Mann mit den missratenen Stimmbändern gab seinen Standort im Navigationsgerät des Wagens ein. Eine Straßenkarte erschien, auf der er sich einen Überblick über Brücken und Kanäle verschaffen konnte. Er tippte mit dem Finger auf das Display.
»Hier könnte es klappen. Ganz in der Nähe ist eine Müllverbrennungsanlage. ’ne schmale Straße, die über mehrere kleinere Brücken führt. Wir verpassen dem Kerl noch einen Cocktail und werfen ihn da runter.«
Der Fahrer wendete den Wagen, die Reifen quietschten. Einen Job nicht konsequent nach Plan ausgeführt zu haben, mochte das Komitee ganz und gar nicht. Sie bogen auf den Rogenberger Damm ein und fuhren mit gemäßigtem Tempo geradeaus.
»Diese Gegend ist ja noch besser als die Brücke, die sonst viel befahren wird. Hier ist keine Sau«, bemerkte Carlos.
»Dafür stinkt es hier wie nach Säuen.«
Carlos beachtete diesen Wortwitz nicht.
Die Straße machte eine kleine Linkskurve und der Fahrer stoppte den Wagen. Er öffnete die Tür und betrachtete den Weg, der vor ihnen lag. Grelle Lichtkegel, die die Dunkelheit durchschnitten.
»Da vorne ist die andere Brücke. Zwanzig Meter vielleicht.« Carlos stieg wieder ein und fuhr los. Nach kurzer Zeit parkte er. »Los, fass mit an.«
Sie öffneten die Hecktür und zogen Dutroit heraus. Wie ein toter Fisch klatschte er auf den Asphalt. Carlos zog das Fläschchen mit der hellblauen Flüssigkeit hervor. Sie war fast leer. Wie schon Stunden zuvor wiederholte er das Prozedere der Injektion. Er zog die Kanüle aus der Verpackung, steckte sie auf die Spritze und schob sie durch die Versiegelung aus Gummi. Sein Opfer rührte sich nicht. Nicht einmal der Brustkorb hob und senkte sich. »Meinst du, das wird noch nötig sein? Heb doch den Rest auf. Wer weiß, für wen wir das Zeug heute noch brauchen.«
Carlos hielt inne. Er musterte das Opfer am Boden. Nicht eine Faser an ihm zuckte. Der Schwarze holte mit seinem Schuh aus und trat mit Wucht in den Leib des auf der Erde Liegenden. Das Opfer keuchte nicht, nicht einmal Luft entwich seinen Lungen.
»Hast recht, der ist fertig.« Er zog die Spritze wieder aus der Ampulle und verstaute alles in seiner Innentasche. Aus der anderen Tasche nahm er ein Klappmesser und schnitt Hand-und Fußfesseln durch. Kein Selbstmörder hüpfte mit verschnürten Händen und Füßen von einer Brücke.
»Komm, heb mit an.«
Carlos nahm den Oberkörper Dutroits, der an die fünfundsechzig Kilo wog, und begann, ihn im Gleichtakt mit seinem Kumpanen zu
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